Arbeitsmarkt Strategiepapier der Bundesregierung bietet keine konkrete Lösung für Fachkräftekrise
Berlin Kaspar Pfister hat alles versucht. Mehr als 200 Altenpfleger bildet seine Benevit-Gruppe aus, doch es reicht nicht, um den Personalbedarf in den gut 30 Seniorenheimen und den ambulanten Pflegediensten zu decken. 50 Pflegefachkräfte von den Philippinen hat er rekrutiert, doch viele sitzen noch auf gepackten Koffern und warten auf Arbeitserlaubnis und Visum.
Eine Mitarbeiterin beschäftigt sich nur damit, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben; knapp 400 der insgesamt 2000 Mitarbeiter verteilen sich auf 55 Nationen. Inzwischen zahlt Pfister 5000 Euro Einstiegsprämie für Pflegefachkräfte. „Ich halte nicht viel davon“, sagt der Benevit-Geschäftsführer, „aber mir ist nichts anderes übrig geblieben.“
In der Altenpflege herrscht mittlerweile deutschlandweit Fachkräftemangel, gleiches gilt bei Energietechnikern oder Klempnern. Bei Softwareentwicklern, Mechatronikern oder Tiefbau-Spezialisten registriert die Bundesagentur für Arbeit (BA) zumindest regional teils erhebliche Engpässe.
Jedes vierte Industrieunternehmen und jeder fünfte Dienstleister findet nicht genug Personal, hat das Ifo-Institut ermittelt. Und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sieht eine nachlassende Dynamik des Jobbooms, weil „Arbeitskräfte zunehmend knapp werden“.
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Der Bundesregierung sind die Gefahren dieser Entwicklung für Europas größte Volkswirtschaft durchaus bewusst. Am kommenden Dienstag wird es daher im Arbeitsministerium ein Treffen mit Vertretern von Arbeitgebern, Gewerkschaften, Verbänden und der BA geben. Dort soll darüber gesprochen werden, wie sich zumindest eine Verschärfung der Situation verhindern lässt. Als Grundlage haben die fünf Bundesministerien für Inneres, Wirtschaft, Arbeit, Familie und Bildung eine gemeinsame Fachkräftestrategie entwickelt, die dem Handelsblatt vorliegt.
Viele Unternehmen hätten schon heute Probleme, für bestimmte Qualifikationen sowie in einigen Branchen und Regionen qualifizierte Fachkräfte zu finden, heißt es darin. „Dies könnte sich in Zukunft noch verstärken und die Fachkräfteknappheit somit zu einem bedeutenden Risiko für die deutsche Wirtschaft werden.“ Unternehmen und Beschäftigte seien in den nächsten Jahren gefordert, die „zunehmende Gleichzeitigkeit von Arbeitskräfteknappheit und Arbeitskräfteüberschuss zu bewältigen“.
Denn laut dem neuen Fachkräftemonitoring, das das Arbeitsministerium beim IAB und beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Auftrag gegeben hat, wird es bei Gesundheit und Pflege, in einigen technischen Berufsfeldern und einzelnen Handwerksberufen auch in den kommenden zehn bis 20 Jahren noch Engpässe geben.
Verweis auf Einwanderungsgesetz
Gleichzeitig wird aber etwa im Einzelhandel, in der Textilverarbeitung sowie im Rechnungswesen und Controlling die Zahl der Fachkräfte höher sein als das Jobangebot. Eine Fachkräftestrategie müsse dem Rechnung tragen und auch die Beschäftigungsfähigkeit von Menschen sichern, deren Arbeitsplätze künftig wegfallen werden. So geht das IAB davon aus, dass jeder vierte Beschäftigte in Deutschland in den kommenden Jahren von Automatisierung betroffen sein wird.
Insgesamt fußt die Fachkräftestrategie der Regierung auf drei Säulen: dem inländischen Potenzial, Einwanderern aus der Europäischen Union sowie Migranten aus Drittstaaten. So soll die duale Ausbildung weiter gestärkt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden, damit mehr Frauen Vollzeit arbeiten können. Bessere Aufstiegsmöglichkeiten würden zudem bei gut ausgebildeten Frauen die Motivation erhöhen, mehr zu arbeiten, heißt es im Konzept.
Digitale Assistenzsysteme und Roboter sollen Beschäftigte entlasten und ihnen erlauben, länger im Betrieb durchzuhalten. Hilfreicher für die Fachkräftestrategie wäre jedoch, wenn die Große Koalition endlich damit aufhörte, Beschäftigte aus dem Arbeitsprozess wegzulocken, kritisiert der Hauptgeschäftsführer des Maschinenbauverbands VDMA, Thilo Brodtmann. „Durch die Rente mit 63 und nun durch die Brückenteilzeit verlieren unsere Unternehmen genau die Fachkräfte, die sie dringend brauchen.“
Konkretes findet sich in dem 14-seitigen Strategiepapier wenig. Die Ausbildung in Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsberufen soll dadurch attraktiver gemacht werden, dass das zum Teil immer noch fällige Schulgeld abgeschafft wird. Prüfen will die Regierung, ob die Ausbildungsförderung noch stärker für Jugendliche aus EU-Ländern geöffnet werden kann. Außerdem soll die berufsbezogene Sprachförderung im In- und Ausland ausgebaut und die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen beschleunigt und erleichtert werden.
Vorbild Kanada
Bei der Zuwanderung verweisen die fünf Ministerien nur auf das geplante Fachkräfteeinwanderungsgesetz, für das es immer noch keinen Entwurf gibt. „Die Bemühungen der Bundesregierung sind bisher völlig unzureichend“, kritisiert FDP-Arbeitsmarktexperte Johannes Vogel.
Deutschland brauche endlich ein modernes Einwanderungsgesetz mit Punktesystem nach dem Vorbild Kanadas. Die Regierung habe bisher nur „nebulöse Eckpunkte“ zustande gebracht. Auch ein echtes Konzept für lebenslanges Lernen samt neuer Instrumente wie einem Midlife-Bafög gebe es trotz der versprochenen nationalen Weiterbildungsstrategie nicht.
Dabei drängt die Zeit, wie der Fachkräftemangel in naturwissenschaftlich-technischen MINT-Berufen zeigt. Laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat die Lücke zwischen Arbeitskräftenachfrage und -angebot im September mit 338 200 Personen ein Allzeithoch erreicht.
Wäre die Beschäftigung von Ausländern mit MINT-Qualifikation seit Ende 2012 nur so langsam gestiegen wie die von Deutschen, würden heute schon deutlich mehr als eine halbe Million MINT-Fachkräfte fehlen, rechnet IW-Experte Axel Plünnecke vor. „Vor allem in akademischen MINT-Berufen hat die Zuwanderung stark zur Fachkräftesicherung beigetragen.“
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