Investitionen: Ein starkes Europa braucht einen geeinten Kapitalmarkt

Als Russland 2022 die Ukraine angriff, war das in vielerlei Hinsicht ein Weckruf für Europa. Zu der Trauer über die vielen unschuldigen Opfer, dem Bekenntnis zur Solidarität mit der Ukraine und der Erkenntnis, dass Europa dringend seine Verteidigungsfähigkeit verbessern muss, kam die Einsicht, dass unsere Energieversorgung grundsätzliche Schwächen aufwies. Die Abhängigkeit von Russland machte dabei nur noch deutlicher, dass wir unsere Wirtschaft nachhaltiger und klimafreundlicher ausrichten müssen.
Diese drängenden Aufgaben hatten und haben aus gutem Grund Vorrang vor manchen anderen europäischen Projekten. Damit sie gelingen können, ist es aber umso wichtiger, dass eine lange diskutierte Idee nicht länger aufgeschoben, sondern gerade jetzt endlich umgesetzt wird: die Kapitalmarktunion.
>> Dieser Gastkommentar ist ein Beitrag zur großen Handelsblatt-Aktion „Zukunftsplan Deutschland“. Alle Texte finden Sie hier.
Um den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen und die Elektrifizierung insgesamt voranzutreiben (allein in Deutschland soll es bis 2030 sechs Millionen Wärmepumpen und 15 Millionen Elektroautos geben), müssen die jährlichen Investitionen in das europäische Stromverteilungsnetz von 33 Milliarden Euro auf 55 bis 67 Milliarden Euro pro Jahr verdoppelt werden, schätzt der Verband der europäischen Elektrizitätswirtschaft. Weitere Hunderte Milliarden an Investitionen sind jedes Jahr nötig, um den Wohnungsbestand und die Übertragungsnetze zu modernisieren und die Dekarbonisierung der Industrie voranzutreiben.
Europa entgeht Kapital für Zukunftsinvestitionen
Die jüngsten Berichte von Mario Draghi und Enrico Letta zur Wettbewerbsfähigkeit Europas und zur Zukunft des Binnenmarktes kommen daher genau zur richtigen Zeit. Draghi weist darauf hin, dass Spannungen in der Geopolitik und der technologische Wandel Europas offene Wirtschaft besonders bedrohen. Letta sieht die grüne und digitale Transformation der EU als oberste politische Priorität für die nächsten Jahre. Und beide machen deutlich, dass die europäischen Kapitalmärkte geeint werden müssen, um diese Herausforderungen zu bewältigen.
Während die EU die Bereiche Energie, Handel und in begrenztem Umfang Dienstleistungen erfolgreich integriert hat, sind Europas Kapitalmärkte nach wie vor kleine Inseln. Mit ihren heterogenen Regeln und Vorschriften sind sie nicht geeignet, genug Mittel für die hohen Investitionen anzuziehen, die beispielsweise im Energiesektor nötig sind. Es ist kein Zufall, dass rund 80 Prozent der Unternehmensfinanzierung in Europa über Banken laufen, nur 20 Prozent über die unterentwickelten Kapitalmärkte. Aber die Bankbilanzen sind begrenzt, und so entgeht uns investierbares Kapital. In den USA sind die Verhältnisse umgekehrt, was sich in einer dynamischeren Wirtschaft widerspiegelt.
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Die gute Nachricht ist, dass es Hoffnung auf einen politischen Sinneswandel gibt. Fast ein Jahrzehnt nachdem die Idee der EU-Kapitalmarktunion im Nachgang der globalen Finanzkrise erstmals aufkam, sehen Optimisten nun echte Bewegung. In Deutschland hat die Regierung im Koalitionsvertrag Taten versprochen, und Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnen das Thema zu Recht als entscheidend für die Souveränität Europas. Auch bei Ursula von der Leyen, der wiedergewählten Präsidentin der Europäischen Kommission, steht ein einheitlicher Finanzmarkt oben auf der Agenda. Das sind wichtige erste Schritte in die richtige Richtung.
Nicht von Populisten beirren lassen
Pessimisten mögen auf die Wahlerfolge der populistischen Parteien am rechten Rand verweisen, deren Politik nicht auf Europas Einheit abzielt, sondern darauf, sich voneinander und vom Rest der Welt abzuschotten.
Wir sehen uns als Realisten, und als solche sagen wir: Gerade die geopolitischen Trends innerhalb und außerhalb Europas sollten rationale Politiker dazu motivieren, die Kapitalmarktunion voranzutreiben. Der scharfe globale Wettbewerb, die notwendige Absicherung von Lieferketten und die Aussicht auf größere Handelsbarrieren machen eines ganz deutlich: Wir dürfen uns auch in Finanzfragen nicht einseitig von anderen abhängig machen, wir brauchen bessere Finanzierungslösungen in Europa. Die Kapitalmarktunion gibt Politikern der Mitte die Chance, mit einer Reform große Wirkung zu entfalten, indem sie die Basis für Zukunftsinvestitionen sichern – und so letztlich auch das Vertrauen der Menschen in demokratische Institutionen stärken.
Aus der Sicht von Investoren, insbesondere der großen globalen Kapitalsammelstellen, die liquide Märkte benötigen, wäre ein gemeinsamer EU-Finanzplatz weitaus attraktiver als 27 Einzelmärkte. Die unterentwickelten Kapitalmärkte schaden aber auch den europäischen Sparern. Sie halten die Mehrheit ihrer Ersparnisse von rund 33 Billionen Euro in Bargeld und Einlagen. Würden diese am Kapitalmarkt angelegt, könnten sie bessere Renditen erzielen – und gleichzeitig die Transformation Europas unterstützen. Stattdessen fließen jährlich Ersparnisse europäischer Familien in Höhe von rund 300 Mrd. Euro ins Ausland, vorwiegend in die USA. Dass Letta die Kapitalmarktunion auch als „Spar- und Investitionsunion“ bezeichnet, ist also vollauf berechtigt.
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Stärkere Kapitalmärkte wären der wichtigste Wachstumsmotor für Europa. Gerade jetzt, in wirtschaftlich heraufordernden Zeiten, könnten sie die Dynamik entfachen, die es braucht, um die schleichende Erosion unserer Wettbewerbsfähigkeit zu stoppen und umzukehren. Mit dem richtigen Ansatz, der keine zusätzliche Bürokratie schafft, sondern nationale Vorschriften strafft und harmonisiert, können wir das große Potenzial Europas freisetzen.






Die beste Nachricht ist: Dies kann schrittweise geschehen.
Die konkreten Handlungsempfehlungen:
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