Gastkommentar: Ein echtes paneuropäisches Bankensystem bedeutet mehr Wirtschaftswachstum

„Wir müssen private Ersparnisse in einem noch nie da gewesenen Ausmaß mobilisieren“, erklärte der ehemalige italienische Ministerpräsident und ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi im Vorfeld seines im September 2024 erwarteten Berichts über die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Damit Europa in den kommenden Jahren auf diese privaten Ersparnisse zugreifen kann, sollten wir dringend die Kapitalmarktunion wiederbeleben. Aber das ist noch nicht alles. Da die Kapitalmärkte nur 30 Prozent des gesamten Finanzierungsbedarfs der Unternehmen in Europa abdecken, während es in den USA 70 Prozent sind, müssen wir auch die Rolle der Banken stärken.
Eine ausgewogene Balance von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ist nötig
Durch die halbfertige Bankenunion sind in Europa Institute entstanden, denen es im weltweiten Vergleich an finanzieller Stärke und an robustem Wachstumspotenzial mangelt. Bislang wurde bei den Bemühungen zur Schaffung einer Bankenunion viel erreicht. Nun brauchen wir ein Umdenken hin zu einer besseren Balance von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Bilanzen der fünf größten US-Banken sind 2,8-mal größer als die ihrer europäischen Konkurrenten. Das ermöglicht eine stärkere Diversifizierung und höhere Investitionsbudgets, um die Grundlage für künftiges Wachstum zu schaffen. Im Gegensatz dazu sind die europäischen Banken immer noch weitgehend innerhalb der nationalen Grenzen tätig.
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Fraglos hat der regulatorische Durchgriff bei den Banken für mehr Stabilität gesorgt, aber ungewollt auch Risiken in Europa geschaffen. Das erste Risiko ist die geringere Widerstandsfähigkeit gegenüber wirtschaftlichen Krisen. Durch die Beschränkung grenzüberschreitender Liquiditätsströme sind Kreditinstitute in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, Risiken und Finanzierungen zu diversifizieren.
Ein weiteres Risiko: In Krisenzeiten kann die inzwischen sehr komplexe Koordinierung zwischen nationalen und europäischen Behörden eine schnelle Lösung behindern und das Systemrisiko erhöhen.
Auch die verringerte finanzstrategische Autonomie erscheint zunehmend problematisch. Die Geschichte hat gezeigt, dass sich außereuropäische Unternehmen während Finanzkrisen in ihre Heimatmärkte zurückziehen und so die Finanzierungssicherheit der europäischen Realwirtschaft gefährden können.
Die wirtschaftlichen Herausforderungen, mit denen Europa heute konfrontiert ist – von der Energiewende über die digitale Transformation bis hin zur Remilitarisierung – werden in den kommenden Jahren enormes Kapital erfordern. Ohne einen Wandel hin zu einem System wahrhaft paneuropäischer Institutionen, die auf globaler oder zumindest regionaler Ebene agieren, werden die Banken kaum in der Lage sein, diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Banken sollten Kapitalerleichterungen erhalten, die ihrem Geschäftsmodell besser entsprechen
Was wäre, wenn anstelle der heutigen strengen Eigenkapitalvorschriften für grenzüberschreitende Fusionen Banken, die in einem noch festzulegenden europäischen Rahmen tätig sind – zum Beispiel Finanzierungen für Unternehmen und Staaten auf mehreren Märkten mit einem Mindestvolumen, um die Relevanz zu gewährleisten –, Kapitalerleichterungen entsprechend ihrem stärker diversifizierten Geschäftsmodell erhalten könnten? Dies könnte der erste Schritt zu einem florierenden gesamteuropäischen System sein.
Es gibt vier Bereiche, auf die sich die neue Europäische Kommission sofort konzentrieren sollte.
Ein europäisches Einlagensicherungssystem: Vorschläge zur Entwicklung eines einheitlichen europäischen Systems sind aufgrund von Bedenken hinsichtlich der unterschiedlichen Risikoniveaus in den EU-Mitgliedstaaten ins Stocken geraten. Eine auf Rückversicherung basierende Lösung, die auf nationale Besonderheiten Rücksicht nimmt, wäre ein Fortschritt. Das könnte in erster Linie eine nationale Einlagensicherung bedeuten, aber mit einer europäischen Einlagensicherung, die im Falle einer Systemkrise einspringt und von den Banken des Landes oder der Länder, in denen das Problem auftritt, zurückgezahlt werden müsste.
Common Backstop: Die Kommission sollte den einheitlichen Abwicklungsmechanismus weiter stärken, und zwar sowohl durch einen sogenannten „Common Backstop“, um den Zusammenbruch mehrerer großer Banken zu bewältigen, als auch durch klarere Befugnisse, um auf Basis einer einheitlichen Grundlage zu handeln.
Grenzüberschreitende Liquidität: Banken würden erheblich davon profitieren, wenn die verbleibenden Hindernisse für grenzüberschreitende Liquiditätsübertragungen innerhalb von Bankkonzernen, unabhängig von Zweigstellen oder Tochtergesellschaften, beseitigt würden.
Nationale Regulierung: Über den technischen Aufgabenbereich der Bankenunion hinaus, der sich auf die aufsichtsrechtliche Regulierung konzentriert, brauchen wir einen Harmonisierungsschub bei der nationalen Regulierung von Steuern, Hypotheken, Kundenschutz und Insolvenz. Dadurch würde die Notwendigkeit für Banken, ihre Produkte und Dienstleistungen für jeden einzelnen Markt anzupassen, erheblich verringert.


Bedeutsame Veränderungen sind nie einfach. Aber langfristig würde ein echtes paneuropäisches Bankwesen mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Sicherheit bringen.
Der Autor:
Christian Edelmann ist Partner und Europachef der Strategieberatung Oliver Wyman.
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