Der Chefökonom: Die Rentenpolitik muss drei bittere Wahrheiten akzeptieren
Düsseldorf. Die Forderung von Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) nach Strukturreformen in den Sozialversicherungen ist zweifelsfrei richtig. Für die Beitragszahler steigen die Sozialabgaben unaufhaltsam. Gleichzeitig bergen markante Leistungskürzungen in der sich rasch alternden Bevölkerung ein politisches Risiko.
Richtig ist zudem, dass die Grundprinzipien der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung auf den gesellschaftlichen Strukturen der frühen Wirtschaftswunderjahre basieren – und den heutigen Realitäten nur begrenzt gerecht werden.
Erinnert sei an den viel zitierten Ausspruch des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer: „Kinder bekommen die Leute immer.“ In Zeiten niedriger Geburtenraten gilt das nicht mehr. Kurzum: Ein heute konzipiertes Sozialversicherungssystem sähe sicher anders aus als das bestehende umlagefinanzierte.
Klingbeil fehlen aber überzeugende Ideen, um vom wenig befriedigenden Status quo zum erstrebenswerten Zustand eines nachhaltigen Sozialversicherungssystems zu gelangen. Die privaten Krankenvollversicherungen lassen sich in realistischen Zeiträumen nicht per Gesetz abschaffen.
Und auch das bestehende arbeitnehmerzentrierte Rentensystem kann nicht durch Federstrich zu einer Bürgerversicherung umgebaut werden, in der dann neben Beamten, Soldaten und Abgeordneten auch die Mitglieder der 91 obligatorischen berufsständischen Versorgungswerke versichert wären. Alle in einem dieser bestehenden Systeme erworbenen Rentenansprüche sind eigentumsrechtlich geschützt, sodass solch ein Übergang Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde.
Unser Rentensystem basiert auf Annahmen, die längst nicht mehr gelten
Ein Blick zurück: Unsere gesetzliche Rentenversicherung wurde 1957 eingeführt. Damals war die dauerhafte Vollzeitbeschäftigung von Männern die Regel, und durchbrochene Erwerbsbiografien waren selten. Zur Wahrheit dieser frühen Wirtschaftswunderjahre gehört aber auch, dass der kräftige Aufschwung an den damals 4,5 Millionen Rentenempfängern weitgehend vorbeiging; die meisten von ihnen lebten in Armut. Die durchschnittliche Rente betrug 62,90 D-Mark und lag damit deutlich unter dem Existenzminimum.
Der große Charme der Einführung dieses Umlageverfahrens war, dass die laufenden Renten unmittelbar kräftig angehoben werden konnten, da die Ansparphase eines kapitalgedeckten Systems entfiel. Denn das Leistungsniveau der Renten stieg schlagartig um durchschnittlich 65 Prozent. Die Wähler dankten es Kanzler Adenauer: Bei der Bundestagswahl 1957 erhielt die Union erst- und letztmalig eine absolute Mehrheit.
Ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wurde klar, welche dramatischen Folgen der nachhaltige Einbruch der Geburtenrate ab Ende der 1960er-Jahre für die umlagefinanzierte Rentenversicherung haben würde. Hinzu kam nach der Wiedervereinigung die Integration der ostdeutschen Beschäftigten und Rentner in das Sozialversicherungssystem der Bundesrepublik. Eine Folge: In den 1990er-Jahren wurde die Frührente zu einer zusätzlichen Arbeitslosenversicherung.
In den Nullerjahren wurde „Nachhaltigkeit“ zum Schlagwort der Rentenpolitik. Es folgten Leistungsrücknahmen, um die Folgen der demografischen Entwicklung abzufedern und die Kosten der Alterung angemessen auf Beschäftigte, Rentner und Steuerzahler zu verteilen.
Unter Nachhaltigkeitsaspekten als fatal erwiesen sich die gesamtwirtschaftlichen „goldenen Jahre“ der zurückliegenden Dekade. Angesichts einer kurzfristig verlangsamten Bevölkerungsalterung sowie eines kräftigen Wirtschaftsaufschwungs waren die Steuer- und Sozialbeitragsquellen höchst ergiebig.
Der demografische Wandel setzt das Prinzip der Umlagefinanzierung unter Druck
Davon geblendet verdrängten die regierenden Koalitionen aus Union und SPD das zuvor über die Parteigrenzen hinweg hochgehaltene Nachhaltigkeitsprinzip. Sie beschlossen teure Leistungsausweitungen wie die „Rente ab 63“, die „Anhebungen der Mütterrenten“ sowie „Haltelinien“ für das Rentenniveau. Bislang will die amtierende Bundesregierung diesen Kurs fortsetzen – trotz der sich auch aufgrund der Alterung abzeichnenden sowie einer wohl länger anhaltenden Eintrübung der gesamtwirtschaftlichen Perspektive.
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Nun können Umlageverfahren nur dann funktionieren, wenn sie obligatorisch sind. Denn nur so kann die beitragszahlende Generation erwarten, selbst ausreichende Leistungen zu bekommen. Dieses Vertrauen schwindet gerade rapide bei der Jugend. Zumal sich in einer alternden Gesellschaft die politischen Mehrheiten sukzessive zugunsten der Rentenempfänger und der rentennahen Jahrgänge verschieben. So waren bei der vergangenen Bundestagswahl 42 Prozent der Wahlberechtigten älter als 59 Jahre.
Politökonomisch sind Leistungsausweitungen und Forderungen nach einer Ausweitung des Kreises der Beitragszahler nachvollziehbar – freilich verbunden mit dem Risiko einer wachsenden Reaktanz der Jüngeren in Form von sinkender Leistungsbereitschaft, Schwarzarbeit oder gar Auswanderung.
Wer die Rentenversicherung ohne einen stetig steigenden Anteil der Steuerzuschüsse zukunftsfest machen will, wird kaum umhinkommen, die Regelaltersgrenze etwa nach Maßgabe der Entwicklung der ferneren Lebenserwartung anzuheben. Gleichzeitig empfiehlt es sich, das System stärker als bisher auf Armutsvermeidung zu fokussieren. Ungeachtet dessen, dass damit eine weitere Lockerung des Äquivalenzprinzips verbunden ist. Denn nur dies erlaubt es, dass die am entfallenen Erwerbseinkommen orientierten Konsummöglichkeiten im Rentenalter in etwa beibehalten werden können. Dieses Postulat kann man teilen, muss man aber nicht.
Die Schweiz hat eine andere Lösung gefunden. Dort stellt die „Alters- und Hinterlassenenversicherung“ eine Basisversorgung von derzeit mindestens 1260 Franken pro Monat für Alleinstehende sicher. Und ab einer „Einkommensgrenze“ von derzeit jährlich 90.720 Franken steigen die Rentenansprüche nicht mehr, während auf die höheren Einkommen weiter Beiträge zu zahlen sind. Diese Basisrente ist für Einzelpersonen derzeit auf 2520 Franken pro Monat gedeckelt. Der gewohnte Lebensstandard wird im Alter über obligatorische Betriebsrentensysteme gesichert.
Eine nachhaltige Rentenpolitik muss bittere Wahrheiten akzeptieren
Eine langfristig orientierte Rentenpolitik darf weder die demografische Entwicklung verdrängen noch die Grundrechenarten verleugnen und muss bereit sein, auch unliebsame Wahrheiten zu akzeptieren: Unser lohnzentriertes Rentensystem kann eine Sicherung des in den letzten Erwerbsjahren gewohnten Lebensstandards im Alter nur selten leisten – auch dann nicht, wenn die wenig aussagekräftige Größe „Rentenniveau“ bei 48 Prozent festgeschrieben wird.
Ohne zusätzliche betriebliche oder private Altersvorsorge werden Rentenempfänger merkliche Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass die derzeitig recht geringe Anzahl der Rentenempfänger, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, steigen wird.
An diesen bitteren Wahrheiten wird die geplante Rentenkommission nicht vorbeikommen und keine Reform etwas ändern können. Es kann nur darum gehen, die Folgen der Bevölkerungsalterung einigermaßen gleichmäßig zu verteilen.