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Kommentar – Der Chefökonom Zentrale Aufgabe der nächsten Bundesregierung ist eine Post-Corona-Wirtschaftspolitik

Die nächste Regierung muss aus dem konjunkturpolitischen Krisenmodus aussteigen. Deutschland braucht nach der Wahl eine wachstumspolitische Initiative.
05.03.2021 - 09:55 Uhr Kommentieren
Die Autoindustrie zählt zu den wichtigsten Branchen Deutschlands. Quelle: dpa
VW-Werk in Wolfsburg

Die Autoindustrie zählt zu den wichtigsten Branchen Deutschlands.

(Foto: dpa)

Dass sich die Finanzpolitik antizyklisch verhalten soll, gilt seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre als Selbstverständlichkeit. Sind die gesamtwirtschaftlichen Produktionsmöglichkeiten markant unterausgelastet, gilt es als Aufgabe des Staats, fehlende private Nachfrage durch kreditfinanzierte Staatsausgaben oder Einkommenshilfen zu ersetzen. Im Boom dagegen sollte über Steuererhöhungen die private Nachfrage gedämpft und die öffentliche Verschuldung zurückgefahren werden.

Ziel ist es, konjunkturelle Schwankungen zu glätten und dadurch gesellschaftliche Wohlfahrtseinbußen zu verringern. Auf dieser Idee basieren die deutsche Schuldenbremse sowie die europäischen Haushaltsregeln: Strukturelle Defizite sollen verhindert, konjunkturelle dagegen zugelassen werden. Dieser Logik folgend, beschlossen die Regierungen aller Industriestaaten im vergangenen Jahr zu Recht Konjunkturpakete in bislang unbekannter Höhe, um den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu begegnen.

So einleuchtend die Idee einer antizyklischen Fiskalpolitik ist, so komplex sind die Probleme einer effizienten Umsetzung. Insbesondere stellen sich die Fragen nach dem richtigen Timing und der angemessenen Dimension der kreditfinanzierten staatlichen Impulse. Denn wirken Stimuli zu spät, also erst wenn das konjunkturelle Tief bereits überwunden ist, oder sie sind zu groß, besteht die Gefahr von Überhitzung.

So wird derzeit debattiert, ob das 1,9-Billonen-Dollar-Konjunkturpaket der Biden-Regierung in den USA womöglich über das Ziel hinausschießt. Denn käme es zur Überhitzung, dann reichten die vorhandenen Kapazitäten nicht aus, „um die wachsende Nachfrage nach Kühlschränken, Autos, Flugreisen und anderen Dingen zu bedienen“, wie Princeton-Ökonom Markus Brunnermeier jüngst im „Zeit“-Interview feststellte. „Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn die Unternehmen mehr Personal benötigen, um ihre Aufträge abzuarbeiten – aber offene Stellen nicht besetzen können.“

Die Inflation würde anziehen, da die Arbeitnehmer höhere Löhne durchsetzen und die Unternehmen die gestiegenen Lohnkosten auf die Güterpreise umlegen könnten. Liegt die Inflation für längere Zeit merklich über dem Zielwert von knapp zwei Prozent, besteht die Gefahr, dass die Konsumenten dauerhaft mit höheren Teuerungsraten rechnen. Damit stellt sich die Frage, woran sich der richtige Impuls bemisst.

Echtzeitinformationen fehlen

Die Produktionslücke bezeichnet die Differenz von tatsächlichem Bruttoinlandsprodukt und Produktionspotenzial. Dieses steht für die fiktive gesamtwirtschaftliche Produktion, bei der die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren – also Kapital und Arbeit – ausgelastet sind. Bei einer negativen Lücke ist die Volkswirtschaft unterausgelastet; ist sie längere Zeit positiv, drohen Überauslastung und Inflation.

Leider fehlen aber Echtzeitinformationen über die tatsächliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und damit zur Produktionslücke. Zwar veröffentlicht das Wirtschaftsministerium dreimal im Jahr eine Schätzung, die Vergangenheit, Gegenwart und die kommenden vier Jahre umfasst. Doch diese Schätzungen sind wenig zuverlässig, und das nicht nur in Bezug auf Gegenwart und Zukunft – sondern selbst für die Vergangenheit.

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So bezifferten die Regierungsökonomen Anfang 2011, also zwei Jahre nach dem Tiefpunkt der tiefsten Nachkriegsrezession in Deutschland, die Produktionslücke im Rezessionsjahr 2009 auf -106,5 Milliarden Euro. Ein gutes Jahr später soll diese Lücke auf -98,2 Milliarden Euro geschrumpft sein, um dann bis zum Jahr 2017 sukzessive auf -130 Milliarden hochrevidiert zu werden. Gegenwärtig wird sie auf -125 Milliarden Euro beziffert.

Außerdem taten sich die Regierungsexperten schwer mit der Frage, wie lange es dauere, bis die Folgen der damaligen Rezession überwunden sein werden. Anfang 2011 schätzte das Wirtschaftsministerium für das laufende Jahr eine Lücke von -27 Milliarden Euro und sagte gleichzeitig voraus, dass es bis 2016 dauere, diese Lücke zu schließen.

Die antizyklische Politikempfehlung im Jahr 2011 hätte demnach gelautet, die Fiskalpolitik müsse weiter expansiv bleiben. Heute geht man davon aus, dass die Produktionslücke bereits Ende 2011 geschlossen wurde. Weitere Konjunkturspritzen hätten damals also prozyklisch gewirkt.

Hinzu kommt, dass selbst das Vorzeichen der Produktionslücke nicht sicher ist. So schätzte das Wirtschaftsministerium noch im Herbst 2018 für 2016 eine leichte Unterauslastung der Volkswirtschaft, während heute die Überauslastung im Jahr 2016 auf 24 Milliarden Euro beziffert wird.

Risiko unerwünschter prozyklischer Nebenwirkungen steigt

Aktuell geben die Regierungsexperten die Unterauslastung der deutschen Wirtschaft im Corona-Jahr 2020 mit 145 Milliarden Euro an und erwarten, dass diese Lücke erst 2025 geschlossen sein wird. Angesichts der Revisionsanfälligkeit ist aber davon auszugehen, dass auch bei der Vermessung der Corona-Rezession noch lange Zeit mit großen Korrekturen zu rechnen sein wird.

Wenn nun aber Nachfragelücken kurzfristig nicht einmal annähernd treffsicher bestimmbar sind, dann kann die Politik die richtige Dimensionierung von Konjunkturpaketen kaum valide bestimmen. Sicher, bei einem akuten gesamtwirtschaftlichen Schock wie dem Corona-Ausbruch war es richtig, dass der Staat Handlungsbereitschaft signalisierte – nicht zuletzt, um Panik zu verhindern. Doch je länger die gesamtwirtschaftlichen Stimuli anhalten, umso höher ist das Risiko unerwünschter prozyklischer Nebenwirkungen.

Handelsblatt: Prof. Bert Rürup
Der Autor

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Die Regierung wäre daher gut beraten, ihre Wirtschaftspolitik nicht an akuten Produktionslücken zu orientieren, sondern am Produktionspotenzial und dessen Entwicklung, denn das lässt sich recht verlässlich schätzen. Stieg das Produktionspotenzial im vergangenen Jahrzehnt noch um rund 1,5 Prozent jährlich, geht der Sachverständigenrat nun davon aus, dass dessen Wachstum bis Mitte dieses Jahrzehnts auf rund ein Prozent sinken wird.

Grund ist neben dem teils modernisierungsbedürftigen volkswirtschaftlichen Kapitalstock das geringer werdende Arbeitsangebot. Und man muss kein Prophet sein, um angesichts des schon bald einsetzenden Alterungsschubs der Gesellschaft eine Verschärfung des Personalmangels in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft sowie der staatlichen Daseinsvorsorge vorherzusagen. Langfristig droht Deutschland eine alterungsbedingte gesamtwirtschaftliche Stagnation.

Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik wäre daher gut beraten, bestehende Wachstumsbremsen zu lockern. So gilt es, Anreize zur Erhöhung des Arbeitsangebots zu setzen. Außerdem muss die Infrastruktur modernisiert werden.

Und nicht zuletzt sollten zusätzliche private Investitionen durch eine überfällige Unternehmensteuerreform und bessere Abschreibungsbedingungen stimuliert werden. So räumte das Bundesfinanzministerium jüngst in einer Verwaltungsanweisung ein, die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer für Soft- und Hardware sei seit rund 20 Jahren nicht mehr geprüft worden und bedürfe deshalb einer Anpassung an die geänderten tatsächlichen Verhältnisse. Wie wahr! Nur sind Soft- und Hardware keineswegs die einzigen Wirtschaftsgüter, deren Abschreibungsregeln aus dem vergangenen Jahrhundert stammen.

Eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird es sein, die Weichen für eine Post-Corona-Wirtschaftspolitik zu stellen. Vermutlich wüssten die Wähler auch schon vor dem Wahltag gern, welche Partei mit welchen Konzepten die deutsche Volkswirtschaft in den demografisch besonders schwierigen kommenden Dekaden steuern will.
Denn eins dürfte auch jedem Nicht-Makroökonomen klar sein: Die Früchte des XXL-Aufschwungs des zurückliegenden Jahrzehnts sind verzehrt. Jedes neue Wahlversprechen muss erst erwirtschaftet werden – und dies erfordert eine Agenda für neues Wachstum.

Mehr: Die nächste Bundesregierung braucht eine finanzpolitische Kehrtwende, meinen Bert Rürup und Axel Schrinner.

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