Jochen Köckler im Interview Chef der Deutschen Messe AG: „Ständig planen, verschieben, absagen – das macht alle mürbe“

Corona-bedingt findet die weltgrößte Industrieschau Hannover Messe in diesem Jahr vollständig online statt.
Düsseldorf Zum zweiten Mal in Folge konnte die Hannover Messe, die weltgrößte Industrieschau, nicht vor Ort stattfinden. Jochen Köckler, Vorstandschef der Deutschen Messe AG, zieht eine gemischte Bilanz des virtuellen Formats. Die Digitalisierung von Messen habe ganz neue Möglichkeiten und Bedürfnisse geschaffen. Die Akzeptanz neuer Formate bei den Ausstellern werde steigen.
Herr Köckler, die Hannover Messe lief vergangene Woche rein digital. Wie lautet Ihr Fazit?
Die Deutsche Messe AG organisiert seit 1947 Messen in Hallen. Da war es etwas ganz Neues, das Messegeschehen mit 1800 Ausstellern und 90.000 Teilnehmern komplett in den virtuellen Raum zu verlagern. Technisch hat das prima geklappt. Mehr als 10.000 Neuheiten wurden auf der digitalen Bühne präsentiert. Die Aussteller machen schließlich keine Pause mit ihren Innovationen.
Was lief weniger gut?
Der Zuspruch zur digitalen Hannover Messe hat unsere Erwartungen übertroffen. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass eine virtuelle Messe die Magie einer physischen Veranstaltung nicht ersetzen kann. Das Zwischenmenschliche kommt im Digitalen zu kurz. Wer Millionen in eine neue Maschine oder Cloud-Lösung investiert, möchte dem Geschäftspartner direkt in die Augen schauen können. Das ist am Ende eine positive Botschaft für uns Messeleute, deren große Hallen gerade leer stehen.
Sie waren also gar nicht so traurig, dass digital nicht mal ein Drittel so viele Aussteller wie sonst teilnahmen?
Viele Aussteller sind erst mal zurückhaltend gegenüber digitalen Formaten. Zudem sind virtuelle Veranstaltungen gar nicht so viel billiger als ein Messestand. Neben dem Digitalpaket der Messe entstehen noch Kosten für das Streaming aus der Firmenzentrale und für Agenturen, die Produkte digital in Szene setzen. Mit digitalen Formaten lassen sich neue Kundengruppen erreichen. Wir rechnen daher damit, dass die Akzeptanz steigen wird.
Die Hannover Messe soll ab 2022 hybrid werden – wie die meisten Messen nach der Pandemie. Das bedeutet doppelten Aufwand für Veranstalter und Aussteller. Das Messebudget der Firmen wird aber nicht unbedingt größer. Wie wollen Sie auskömmliche Einnahmen generieren?
Eine Messeplattform muss attraktive Angebote machen, die Nutzen stiften. Dann zahlen die Unternehmen auch dafür. Das ist wie damals, als das iPhone auf den Markt kam. Die Digitalisierung schafft nun auch in der Messebranche ganz neue Möglichkeiten und Bedürfnisse. Messeveranstalter werden künftig Messestand und Livestreaming anbieten. Und der Kunde entscheidet, was er nutzen möchte.

„Die Digitalisierung schafft ganz neue Möglichkeiten und Bedürfnisse.“
Fürchten Sie nicht, dass Aussteller ganz in den digitalen Raum abwandern?
Sicherlich gibt es Unternehmen, die in der Pandemie gelernt haben, wie sie ihre Kunden auch digital erreichen. Es kann durchaus sein, dass für manche ein virtueller Auftritt mit deutlich kleinerem Budget den gleichen Effekt hat wie ein Messestand. Die meisten wollen sich aber endlich wieder vor Ort mit den Wettbewerbern präsentieren.
Braucht es in Zukunft dann noch so große Messehallen?
Dass Messen oder Messestände kleiner werden, sehe ich nicht zwingend. Aussteller, die ausschließlich Produkte zeigen und keine Lösungen, müssen sich fragen, ob dafür Besucher extra anreisen. Nach der Pandemie wird es weniger Geschäftsreisen geben – aus Zeit- und Kostengründen. Leitmessen, die als globaler Branchentreff fungieren, werden hohe Attraktivität behalten. Und durch Streaming lassen sich Zielgruppen erreichen, die nicht anreisen können oder wollen.
Infrastruktur darf nicht wegbrechen
Daran verdienen Gastronomen, Einzelhändler, Taxifahrer und Standbauer in Messestädten jedoch keinen Cent.
An digitalen Messen können viele entlang der Wertschöpfungskette der Messen nicht partizipieren. Das ist ein sehr sensibler Punkt. Je länger die Pandemie dauert, umso mehr müssen wir auch darauf achten, dass uns die Infrastruktur nicht wegbricht. Es besteht die Gefahr, dass etwa Standbauer umsatteln, weil die Nachfrage nach Handwerkern boomt. Deshalb ist es so wichtig, dass es dieses Jahr mit Messen vor Ort wieder losgeht.
Sie schreiben das Messejahr 2021 also noch nicht ganz ab? Obwohl Messen wie die Agritechnika bereits von November auf Februar verschoben sind?
Ich hoffe, dass es im September hierzulande dank der Impfungen Herdenimmunität gibt. Ob dann schon genügend Teilnehmer aus dem Ausland kommen, ist fraglich. Aber nationale Messen sind möglich. Die Branche braucht im Herbst dringend Planungssicherheit für internationale Messen 2022. Ständig planen, verschieben, absagen – das macht alle mürbe und tut den Messemarken nicht gut.

„Eine virtuelle Messe kann die Magie einer physischen Veranstaltung nicht ersetzen.“
Das Messegeschäft in Deutschland ist 2020 um 70 Prozent eingebrochen. Wie lange können Messegesellschaften die Durststrecke finanziell noch durchhalten?
Auch 2021 wird wieder ein verlustreiches Jahr für die deutschen Messeveranstalter. Trotz harter Sparmaßnahmen werden wir in Hannover wohl wieder zweistellige Millionenverluste machen. Schließlich müssen wir auch in die Zukunft investieren – etwa in die Digitalisierung des Messegeschäfts und in die 5G-Vernetzung unseres Geländes. Durch Bürgschaften unserer Eigentümer, Stadt und Region Hannover und des Landes Niedersachsen, sind wir stabil durchfinanziert. Aber Messen brauchen endlich eine Perspektive. Sonst ist die deutsche Messebranche in ihren Grundfesten gestört – mit erheblichen Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft.
Herr Köckler, vielen Dank für das Interview.
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