Cindy Sherman: Weibliche Archetypen im Fokus

Cindy Sherman: Die Serie „Centerfolds“ stellt Frauen in Krisensituationen dar, hier „Untitled 92“.
New York. "Bevor ich jemals fotografiert habe, habe ich mich gerne verkleidet und bin in meinem Zimmer in unterschiedlichen Charakteren herumspaziert", schilderte Cindy Sherman gegenüber dem Regisseur John Waters den Start ihrer Weltkarriere. Das Interview ist im sorgfältig edierten Katalog der großen MoMA-Retrospektive abgedruckt.
Ganz allein mit dem Spiegel verwandelt sich die eher scheue Sherman (58) mit Kleidern aus Secondhandläden, Make-up, Perücken und künstlichen Körperteilen in eine Armee von komplexen Charakteren. So hässlich wie möglich sollte das Alter Ego sein, dann gilt ihr die Verwandlung als gelungen. Sherman zählt heute zu den wichtigsten Künstlern unserer Zeit.
Viel kunsttheoretische Tinte ist über Fragen der Identität und Repräsentation vergossen worden. Die junge Kuratorin Eva Respini aus der Fotoabteilung im MoMA bemüht sich, einen frischen Ansatz zu finden: "Sherman ist heute aktueller denn je. Sie adressiert Themen, die gerade im Zentrum unserer visuellen Kultur stehen. Zu Zeiten von Celebrity Make-overs, Reality-Shows, YouTube und Facebook scheinen ihre Formen von Repräsentation gültiger zu sein als zu ihrer Entstehungszeit." Zum ersten Mal sieht das amerikanische Publikum Shermans riesige "Photomurals" von 2010, die schon im Kiewer Pinchuk Art Centre und der Biennale di Venezia gezeigt wurden. Anstelle von Schminke nutzte sie hier das Bildbearbeitungsprogramm Photoshop zur Manipulation ihres Gesichts.
Aus dem derzeit 513 Arbeiten umfassenden Œuvre wählte Respini 180 Fotos von den späten 1970er-Jahren bis heute. Sämtliche Werke sind unbetitelt und nur durch die von der New Yorker Galerie Metro Pictures zugewiesenen Archivnummern identifiziert. Dort stellt Sherman seit 1980 aus. In Los Angeles, Rom und Paris zeigen sie die Gagosian Galleries, in Europa wird sie von Sprüth Magers (Berlin, London) vertreten.
Die MoMA-Schau ist chronologisch gehängt, aufgebrochen durch Themenräume zu technischen Aspekten oder kommerziellen Modefotos. Geschickte Installation beugt der Monotonie vor: 35 historische Porträts (1988-1990) konzentrieren sich in Salonhängung auf weinrotem Grund, die wichtigen "Centerfolds" (1981) umziehen friesartig in Augenhöhe einen dunkelgrau gestrichenen Saal. Stets schlug Sherman mutig Haken und beschritt radikal neue Wege. Wenn ihre Provokationen zu eilfertig akzeptiert wurden, griff sie zu noch größeren Schockern. Mit ekelerregenden, grotesken oder sexuell drastischen Stillleben der 1980er- und 1990er-Jahre wollte sie beweisen, dass sie Geschichten erzählen kann, ohne selbst im Mittelpunkt zu stehen. Diese Arbeiten machen sich hier rar.
Auch die Schwarz-Weiß-Fotos, in denen sie ihre schwierige Scheidung an malträtierten Puppen austobte, kommen nicht vor. Erstaunlich homogen wallt prächtiger, weitgehend jugendfreier Glamour durch elf Säle. Respinis Auswahl des Besten vom Besten deckt sich auffällig mit Shermans größten kommerziellen Erfolgen. Von Anfang an wurde sie von Sammlern und Kritikern geliebt, schon seit den frühen 1980ern konnte sie von ihrer Fotografie leben.
Zu den ersten Förderern zählte Megasammler Eli Broad, der über 114 Arbeiten besitzt. "Sie wird wegen ihres Einflusses auf folgende Generationen und ihrer Fähigkeit, kulturelle Archetypen zu destillieren, gesammelt", weiß Christie's Experte Andrew Massad.
Laut Datenbank Artprice vervierfachte sich Shermans Preisindex zwischen 1998 und Oktober 2011 (1 300 verkaufte Lose); ihr Auktionsumsatz stieg im letzten Jahr auf 13,7 Millionen Dollar. Sieben ihrer Arbeiten haben schon die Millionenmarke übersprungen. Die ursprünglich weitgehend auf Amerika beschränkte Nachfrage erstreckt sich seit fünf Jahren auch auf Europa, den Mittleren Osten und Asien, so Massad.
Shermans 70 schwarz-weiße "Untitled Film Stills" (1977-1980), in denen die frisch von der Uni kommende 23-jährige Sherman Filmklischees vorführt, gehören immer noch zu ihren wichtigsten und beliebtesten Arbeiten. Damals kostete ein Abzug bei Metro Pictures um 200 Dollar. Als das MoMA im Dezember 1995 ein vollständiges Set für die enorme Summe von angeblich einer Million Dollar erwarb, folgte ein erster Aufschwung. Im Mai 1999 erzielte die Favoritin dieser Serie, die Anhalterin "Untitled Film Stills #48", schon 200 500 Dollar (41 auf 51 cm), acht Jahre später war sie schon 1,2 Millionen Dollar wert. Andere Marktlieblinge sind Nr. 13 und Nr. 21, die Bibliothekarin und die Büroangestellte.
Phillips de Purys viel beachtete Auktion Carte Blanche, die der einflussreiche Berater Philippe Ségalot, selbst ein langjähriger Sherman-Sammler, im November 2010 zusammenstellte, setzte weitere Preismarken. In "Untitled #153" (1985) aus der gruseligen Serie "Fairy Tales" (6er-Auflage) liegt Shermans Kopf verschmutzt und mit starrem Blick im Gras. Die hohe Taxe von 2 bis 3 Millionen Dollar für das marktfrische Foto habe er improvisiert, erklärte Ségalot damals, schließlich befinden sich die restlichen fünf Abzüge in Museen. Rarität hat ihren Preis - die Rechnung ging bei 2,8 Millionen Dollar brutto auf.

Die selten angebotenen zwölf "Centerfolds" (10er-Auflage) hatten Sherman 1981 in den Starstatus katapultiert: Auf die Ausstellung bei Metro Pictures (Preis: je um 1 000 Dollar) folgten Einladungen zur Documenta VII und der Biennale di Venezia. Die Serie im Ausfalter-Format war von der Kunstzeitschrift "Artforum" in Auftrag gegeben, aber nie gedruckt worden. Provokant hatte die Künstlerin die "Playboy"-Centerfolds mit liegenden Frauen in rätselhaften emotionalen Krisen gefüllt. Das war zu schockierend und roh im aufkommenden Feminismus.
Heute sind allein fünf "Centerfolds" in Shermans Top Ten vertreten. Favoritin ist "Untitled #96" in Orangetönen. Als das Foto im Mai 2011 zu 3,9 Millionen Dollar bei Christie's zugeschlagen wurde, blieb es sechs Monate lang die teuerste Fotografie überhaupt.
Unter Shermans letzten Werken faszinieren die fast lebensgroßen alternden Society-Ladys (2008), für die Metro Pictures zwischen 175 000 und 250 000 Dollar verlangte. Für die riesigen Photomurals mit dem Hintergrund des Central Park gibt es eine maßgeschneiderte Preisgestaltung: der Käufer kann aus neun verschiedenen Charakteren wählen, jede Kostümierte darf höchstens sechs Mal verkauft werden (ab 250 000 Dollar). Nicht alle Sherman-Arbeiten bewegen sich in schwindelnden Höhen. 40 Prozent ihrer Werke werden, laut Artprice, unter 6 000 Dollar zugeschlagen. Das gilt vor allem für hohe Auflagen von über 100, mit denen die Künstlerin den Erwerb demokratischer gestalten wollte. Cindy Sherman in New York, bis 11. Juni, dann in San Francisco, Minneapolis und Dallas. Der schöne Katalog erschien auf Deutsch im Schirmer/Mosel Verlag, München, für 58 Euro.





