Documenta 13: Abenteuer-Spielplatz für die Sinne

Sam Durants begehbare Skulptur nach Modellen alter und neuer Galgen.
Kassel. Seit Beginn der Documenta war die ausgedehnte Parkanlage der barocken Karlsaue die traditionelle Ruhezone für die Besucher. Diesmal bildet sie mit über 50 Künstlern einen neuen Schwerpunkt, der sich kilometerlang erstreckt. Zum Glück kann man sich Fahrräder ausleihen und losradeln, vorbei frisch gepflanzten Apfelbäumchen und Wildwuchs auf den Wiesen, vorbei an den kleinen Holzhäusern im Baumarkt-Design, die an Wellness-Oasen erinnern oder Behausungen der Occupy-Bewegung nahestehen. Am großen See klettern Kinder und Erwachsene auf einem hohen Holzgerüst herum. Wer ahnt schon, dass Sam Durant, Jahrgang 1961, sich bei der Konstruktion an historischen und aktuellen Galgenmodellen orientiert hat. Das Anti-Denkmal des Amerikaners schockiert. Durant setzt sich mit der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten auseinander.
Von einer versteckten Lichtung im Wald klingen sphärische Klänge herüber und laden ein zum Verweilen. Die Idylle trügt, diese Sound-Installation von Janet Cardiff & George Bures Miller verunsichert, der Besucher hört plötzlich ein Geräusch wie Panzerketten hinter sich, Bäume fallen, Unheil droht. Weiter geht es zum schwarzen „Tea Party Pavillon“ von Rosemarie Trockel. Nur drei oder vier Personen auf einmal dürfen hinein und die Bilder betrachten. Draußen radeln Galeristen vorbei, das Handy am Ohr.
Auf der anderen Seite des Kanals zeigt Thea Djordjadze in einem Gewächshaus eine ortsbezogene Skulptur. Sie kommt wie gewohnt mit „halbfertigen Sachen“ an und arbeitet mit den möbelartigen Stücken aus einfachen Materialien wie Gips, Drahtnetz, Holz, Lehm, Papier und Textilien vor Ort.

Lois Weinbergers Arbeit von 1997 "Das über Pflanzen / ist eins mit ihnen" im Kulturbahnhof ist Teil der Documenta 13. Foto: Uwe Zucchi
„Körperkino“ von Cardiff & Miller
Cardiff & Miller spielen auch auf dem neuen Schauplatz der Documenta, dem Kulturbahnhof, eine Rolle. Als 1991 nach der Wiedervereinigung der gesamte Fernverkehr auf den neu gebauten Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe umgeleitet wurde, verwaiste der alte Bahnhof. Heute dient er nur noch als Haltepunkt für Pendlerzüge. Das Areal wird zum ersten Mal von der Documenta genutzt.
Ehe der Besucher in Richtung „Südflügel“ oder „Nordflügel“ aufbricht, wird er von Cardiff & Miller an die Hand genommen. Ihren „Video-Walk“ über den „Alten Bahnhof“ kann man sich auf ein Smartphone herunterladen. Unten im Bahnhofs-Kino werden auch Abspielgeräte mit Kopfhörer verliehen: Nun eröffnet sich eine Welt, in der sich Realität und Fiktion auf eine verstörende Weise vermischen, die man als „Körperkino“ bezeichnet. Der Betrachter erlebt über einen kleinen Bildschirm alles mit, er befindet sich genau dort, wo das Bildmaterial gedreht wurde. Man folgt den bewegten Bildern, glaubt, die Kamera selbst zu bedienen, was zu einer noch nie erlebten Verwechslung von Realitäten führt. Man erfährt Bedrückendes (den Abtransport der Juden von Gleis 13), aber auch Heiteres.
Willie Dohertys Videoinstallation „Secretion“ (2012), die der Künstler aus Irland an Orten in und um Kassel gedreht hat, gehört zu stillen Meisterwerken der Documenta. Der verschlungene Lauf der Fulda mündet in einem Industriegebiet am Stadtrand, die Bilder der zerstörten Landschaft und der Verwesung sind das Vermächtnis des Anfang 50-Jährigen.
Wie irreal wirkt das Vorgehen des Künstlers Rabih Mroué, Jahrgang 1967, aus Beirut. Er arbeitet mit Handy-Videos, die syrische Oppositionelle von ihren Mördern machten, bevor sie erschossen wurden. Das funktioniert ohne Schock-Ästhetik.

Besucherin auf den Spuren der iranischen Künstlerin Natascha Sadr Haghighian. Foto: Uwe Zucchi

Video-Gucken im Gesamtkunstwerk "Hugenottenhaus" von Theaster Gates (USA). Foto: Boris Roessler
In einer alten Lagerhalle im Nordflügel des Kulturbahnhofs bezaubert William Kentridge mit seinem neuen Animationsfilm „The Refusal of Time“ (2012). Das ist eine opulente 5-Kanal-Produktion, die Kentridge in Zusammenarbeit mit dem Harvard-Physik-Professor Peter Galison entwickelte. Sie thematisiert den Widerstand gegen das unerbitterliche Fortschreiten der Zeit, gegen das Alter und den Tod. Kentridge wörtlich: “Wir sind wie Metronome im Takt. Das ist die Diktatur der Zeit, in der wir leben.“ Diesen Druck lehnt er ab, weil er jede Kreativität lähmen würde. Eine Thematik, die mit Südafrika, seiner Heimat, nur bedingt zu tun habe. Er betrachte die Welt als Ganzes. „The Refusal of Time“, ist ein neues Theater-Experiment mit Commedia dell`Arte-Temperament.
Beliebtester Treffpunkt in Kassels Innenstadt wurde auf Anhieb das verfallene Hugenottenhaus von 1826, das der aus Chicago stammende Künstler Theaster Gates mit Hilfe von arbeitslosen Jugendlichen aus Chicago und Kassel wieder bewohnbar machte. Die Collagen an den Wänden erinnern an die rohen Combine-Paintings des jungen Robert Rauschenberg. In den vielen kleinen Zimmern des Hauses, meist Schlafzimmer für die Crew, und einer Küche als Treffpunkt, stehen Monitore, auf denen Mitglieder des Blues-Ensembles „The Black Monks“ zu sehen sind, Schwarze aus Chicago, die abends Musik machen. Das Hugenottenhaus ächzt und stöhnt unter der Last, es werden nicht mehr als ein Dutzend Zuhörer hineingelassen.
Frivoles im verstaubtem Ambiente
Durch den verwilderten Garten hinter dem Hugenottenhaus sind es nur wenige Schritte zu Tino Seghals neuem Werk: Ein dunkler Raum, in dem man die Orientierung verliert, rhythmische Laute, Musik und das Wispern von Guides vernimmt, die einen schließlich an die Hand nehmen – das Dunkel lichtet sich nicht, trotz gegenteiliger Versprechungen.
Im alten Ballsaal des Grand City Hotel Hessenland zeigt der Ire Gerard Byrne Projektionen von synchronisiertem Video-Material: Junge Engländer in feinem Zwirn unterhalten sich über Frauen und über sexuelle Vorlieben. Das Frivole passt ins verstaubte Ambiente. Das Grand-Hotel möchte den alten Ballsaal sanieren. Sponsoren sind erwünscht.
Gänsegeigen im Luftschutzkeller
Abseits der Hauptschauplätze gibt es noch manche Entdeckung. Der Bunker im Weinberg gehört dazu mit einem neuen Film des Duos Allora & Calzadilla. In „Raptor`s Rapture“ geht es um eine Flöte, „die ein Homo Sapiens vor 35.000 Jahren aus dem Speichenknochen des Flügels eines Gänsegeigers geschnitzt hat.“ Diese Flöte gilt als das älteste je gefundene Musikinstrument und wird von einer Flötistin gespielt. Das Experiment fand in de Gegenwart eines noch lebenden Gänsegeigers statt. Die fremden Klänge im Tunnellabyrinth unter dem Weinberg, der im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller diente, ist ein Treffen der besonderen Art.
Oben, auf den Weinbergterrassen, lagern die Skulpturen des Argentiniers Adrian Villar Rojas (Jg. 1980). Sie wirken wie die Überreste eines verwüsteten Science-Fiction-Imperiums aus einem drittklassigen Kinofilm.
„Zusammenbruch und Heilung“ heißt das Leitmotiv der 13. Documenta in Kassel. Sie läuft bis 16. September in: Friedericianum, Neue Galerie, Ottoneum, Orangerie, documenta-Halle, Karlsaue, Hugenottenhaus, Kulturbahnhof im alten Hauptbahnhof, Bunker im Weinberg, Weinberg-Terassen und an vielen anderen Orten. Sie ist täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet.





