Architektur Wie aus Bergbauernhöfen Luxusdomizile werden

Das Schlafzimmer im Dachgeschoss dieses Bauernhauses aus dem frühen 16. Jahrhundert ist komplett aus Lärchenholz. Hans-Jörg Ruch arbeitet ausschließlich mit regionalen Baumaterialien. (Aus dem Bildband „Close-up“, Ruch & Partner Architekten, 1. Aufl. 2018, Scheidegger & Spiess.)
St. Moritz Seine Stimme klingt ruhig und rund, seine Sätze kommen langsam, bedächtig, abwägend. Es ist, als würde er die Worte abtasten, ehe er sie ausspricht, als würde er nach etwas suchen, um schließlich mit den Lippen eine Skulptur zu formen: „Das alte Haus hat immer recht“, sagt er zum Beispiel. Oder: „Die alten Stallscheunen sind die Kathedralen des Engadins.“
Der Schweizer Architekt Hans-Jörg Ruch ist jetzt 74 Jahre alt. Aber aufhören? Bilanz ziehen? Ruch überlegt ein paar Augenblicke, kneift kurz die grauen Augen unter seinen buschigen Brauen zusammen, streicht über den weißgrauen Vollbart. Ruch hat keinen Beruf, den man im Alter ablegen kann wie eine aus der Mode gekommene Jacke. Wenn Ruch ein altes Haus betritt, ist es so, als würden die Mauern zum Leben erwachen, um ihm ihre Geschichte zu erzählen. Und dann muss er ihnen zuhören, muss sich ihnen widmen, muss sich entführen lassen in diese Welt des Vergessenen. „Es hört einfach nicht auf“, sagt er, „es geht immer weiter.“
Ruchs St. Moritzer Architekturbüro plant zwar auch neue Häuser, postmoderne Designobjekte aus Holz, Glas, Stahl und Beton. Mehr und mehr Aufmerksamkeit beanspruchen jedoch jene Objekte, die aus der Tiefe der Zeit kommen. Nein, falsch, es sind Subjekte, weil sie sich jeder Blaupause und allem Erlernten entziehen: historische Bauernhöfe und Bürgerresidenzen des Engadins, jenes Hochtals im schweizerischen Kanton Graubünden, das lange abgeschnitten war von den Aufgeregtheiten der europäischen Zivilisation, um dann doch vom Geldadel überformt zu werden.
Ruchs räumliche Präsenz in seinem Büro sagt viel über die Kräfte, die dort wirken. 13 Mitarbeiter beschäftigt er; operativ hat sein Sohn Andreas die Leitung der kleinen Aktiengesellschaft übernommen. Das Loft des Unternehmens Ruch & Partner besteht aus einem Besprechungsraum und zwei Hallen mit weiß getünchten Wänden. In der größeren Halle, dort, wo die Mitarbeiter und der Juniorchef sitzen, gibt es Skizzen und Zeichnungen, Modelle von Gebäuden, Bücher, Skulpturen. Und Farbdosen, Scheren, Aktenordner.
In der anderen, kleineren Halle gibt es nur einen Schreibtisch. Er wirkt unscheinbar und ist doch der Aussichtspunkt, von dem Ruch in einem 90-Grad-Winkel das ganze Panorama überschaut. Durch das Fenster zu seiner Linken könnte er auf das „Kulm“ sehen, ein Luxushotel, in dem die Übernachtung schon mal 5.000 Franken kostet. Geradeaus gibt ein Durchgang den Blick in die Halle der Mitarbeiter frei. Zur Rechten öffnet sich die Tiefe des Raums. Metergroße Keilrahmen mit Werken zeitgenössischer Künstler, Fotos der wichtigsten Projekte und wieder Skulpturen, all das schweigt in die Zeitlosigkeit des Ateliers hinein.

Der Schweizer Architekt sieht sich häufig in der Rolle eines Archäologen.
Es ist ein Raum, der nichts wissen will von Unternehmertum oder der Tatsache, dass Ruch noch immer die Mehrheit der Aktien an seinem Unternehmen hält. Nein, es gefällt ihm nicht, über Umsatz und Gewinn zu sprechen. „Es ist nicht wichtig“, sagt er. Ruch kann es sich leisten, das nicht wichtig zu finden.
Das gilt auch für seine Kunden: „Die Bauherrschaft kosten die Recherchen Geduld und Geld, aber ich beharre darauf. Akzeptiert dies jemand nicht, bin ich nicht zu weiteren Schritten bereit. Ich muss mich sicher fühlen, bevor ich in ein Haus eingreife.“ So hat es Hans-Jörg Ruch in seinem Buch „Interventionen“ formuliert.
An diesem strahlenden Herbstmittag interveniert Ruch in Celerina. Die jahrhundertealten Häuser im Ortskern erinnern mit ihren meterdicken Wänden an Burgen. Bauern gibt es schon lange nicht mehr in diesem von hohen Bergen umzingelten Dorf unterhalb von St. Moritz. Hinter gut erhaltenen Fassaden verbergen sich vor allem Zweitwohnungen, deren Besitzer in Zürich, Bern oder St. Gallen leben. Der Pakt, den die Hochgebirgsregion um St. Moritz mit dem Geld geschlossen hat, gilt auch hier, nur dass man ihn in Celerina nicht sieht.
Der Widerstand des alten Hauses
Ruch, mit grauer Schirmmütze, olivgrüner Wachsjacke und Bergschuhen ausgerüstet, stoppt vor der Chesa Pezzi, einem mächtigen Bauernhaus im Zentrum des Orts. Er duckt sich, unterquert das Halbrund des Eingangs und betritt die Wohnstube, die mit ihren uralten Möbeln, dem Kamin und dem groben Putz aussieht wie dem örtlichen Heimatmuseum entliehen.
Im vergangenen Jahr hat Ruch begonnen, das Haus aus dem Jahr 1640 kennenzulernen. Die Eigentümer, eine Familie aus St. Gallen, möchte mehr Wohnraum für ihren ererbten Zweitwohnsitz. Er weiß, dass es ein riskantes Manöver ist, das historische Haus mit den Anforderungen des modernen Lebens zu verknüpfen. „Zu viele Häuser haben schon ihre Seelen verloren“, findet Ruch.
Er, der sonst so Gelassene, sagt, dass die Interventionen ihn quälen: „Ich habe schlaflose Nächte, ich bin immer nur am Tarieren.“ Und wenn seine Handwerker Leitungen legen, wenn sie den Bohrhammer brüllen lassen und mit diesem Höllengerät tief ins Mauerwerk eindringen, wenn die Bruchsteine splittern, dann spürt er, wie das alte Haus Widerstand leistet, dann fühlt er seine eigene Zerrissenheit: „Man will dem Haus ja nicht wehtun.“
Ruch tippt gegen die Wölbung des Kamins. Der Ofen samt Wohnstube zählt für ihn zu den Elementen, die unantastbar bleiben. „Das ist der warme Kern, das Herz des Gebäudes“, sagt Ruch. Das ursprüngliche Konzept dieses Energiesparhauses aus dem 17. Jahrhundert fasziniert ihn: der Ofen in der Küche, der die Herdplatte erhitzt, den angrenzenden Wohnraum heizt und das oben liegende Schlafzimmer wärmt. Hier spielte sich das winterliche Leben ab, damals. Die anderen Zimmer blieben kalt, bis das Frühjahr milde Temperaturen brachte.
Die Lunge des Hauses
Hans-Jörg Ruch duckt sich erneut, verlässt die museale Wohnstube, schreitet vorbei an Räumen im Rohbau, die künftig moderne Küche und Badezimmer sein werden, und betritt, was er „die Lunge des Hauses“ nennt. Unten gibt es dicke Mauern, darüber luftiges Gebälk, oben nur noch das Blau des Himmels. Die Heuställe der alten Engadinerhäuser, die Ruch umgestaltet, nennt er „Kathedralen“. Räume, die allein durch ihre Höhe sakral wirken. Räume, die nach seiner Ansicht leer bleiben müssen, damit das Haus atmen kann. Es ist der Platz des Hauses, der immer wieder neu genutzt werden will, eine Schleuse zwischen außen und innen.
Wo in alten Zeiten Heu lagerte, soll allenfalls etwas anderes aufbewahrt werden. Kunst zum Beispiel. Wenn es so etwas wie Ruchs Signatur gibt, dann ist es das. Einmal schrieb er in einem Bildband: „Die Bauherrenschaft wollte in den Heustall Wohnungen einbauen, und dagegen wehrte ich mich. Ich spürte, das Haus wäre nicht mehr dasselbe, wenn der riesige Leerraum verschwinden würde.“

Die Kuhställe des Bauernhauses aus dem Jahr 1685 verwandelte Ruch in modernen Wohnraum – ohne deren ursprünglichen Charakter zu zerstören. (Aus dem Bildband: „Close-up – Ruch & Partner Architekten 1994–2018“)
Einerseits sagt Ruch: „Das Neue muss sich dem Alten unterordnen.“ Andererseits sagt er: „Ich bin kein Bewahrer, sondern Architekt.“ Ruch nimmt vorsichtig das Dach des Styropor-Modells ab, das in diesem Universum von Heustall zu verschwinden scheint. Mit Daumen und Zeigefinger bewegt er einen Pappkubus in Seifendosengröße durch den Miniaturstall, schiebt ihn hin und her. Der Kubus verbindet das 17. Jahrhundert mit dem 21. Jahrhundert.
Dann wendet er den Blick von der Miniatur ab, hebt den Kopf und betrachtet die Firstbalken, als würde er über das Firmament staunen. Der neue Trakt aus Wohnzimmer, Küche, Badezimmer und Schlafzimmer setzt der Leere der Scheunenhalle Grenzen. Im Rohbau ist der Kubus fertig, es ist ein Haus im Haus, dessen Betonwände respektvoll Abstand halten zu den historischen Mauern. Ruch spricht von der „Spannung zwischen Alt und Neu“, dann berührt er mit seiner rechten Hand die Betonfläche: „Für mich ist auch das eine Skulptur; ich möchte, dass die Elemente miteinander sprechen, das alte Haus muss das neue Haus verstehen und umgekehrt.“
Der Putz als Wissenschaft
Bei seinen Eingriffen ist Ruch nicht allein. Restaurator Ivano Rampa, der mit seiner Nickelbrille, dem Schnurrbart und den wuchtigen Augenbrauen an Albert Einstein erinnert, diskutiert mit dem Architekten und dem portugiesischen Maurer Vitor Santos die Qualität verschiedener Putzproben. Er hat sie auf vier Platten verspachtelt, jede ein Meter im Quadrat. Der Mörtel verleiht den Platten durch seine unterschiedliche Körnung, Farbe und Struktur den Charakter abstrakter Kunstwerke. Rampa ist 56, aber er sagt, dass er noch immer lernt, wenn er sich auf der Suche nach dem idealen Putz an die historische Wahrheit des Hauses herantastet. Es ist ein Prozess, der Wochen dauert.
Plötzlich kreischt ein Düsenjäger über das Haus, zerschneidet die Ruhe, Rampa verstummt. Das Kreischen geht in ein Grummeln über – dann ist wieder Ruhe. Auf dem Boden des ehemaligen Heustalls stehen Eimer mit regionalen Zutaten: Kalk, Sand, Splitt, Schiefer. Santos – dichte schwarze Locken, grellgelber Arbeitsoverall – rührt eine neue Putzprobe an, seine Kelle schabt und kratzt durch den Eimer, lässt die zähe Masse schmatzen. Was zählt, ist das Material, das Mischungsverhältnis, die Art, wie Santos den Putz mit der Kelle aufträgt. So nähern sich Rampa, Santos und Ruch über Wochen dem ursprünglichen Putz, den sie so vorsichtig freigelegt haben.

Dieses Bauernhaus baut Ruch derzeit für eine vermögende Familie in St. Gallen um, die historischen Details bleiben erhalten.
Die Bewohner des Hauses kamen und gingen in den vergangenen Jahrhunderten, die meisten von ihnen hinterließen Spuren. Heute sind das die Sedimente der Vergangenheit, die Ruchs Handwerker entfernen müssen, bevor sie zum Kern des Gebäudes vordringen. Hans-Jörg Ruch vergräbt die Hände in den Taschen, seine Augen ruhen auf Rampa; er hört seinem Restaurator aufmerksam zu, wie ein Bildungsreisender einem Fremdenführer. Ruch will nicht unterbrechen, will nicht besserwisserisch sein. Sie lernen gemeinsam ein uraltes, vergessenes Handwerk.
Am Nachmittag sitzt Hans-Jörg Ruch am Kopf des langen Besprechungstischs, der sich seinem Atelier anschließt. Was macht die Zeit mit ihm, diesem Entdecker der Langsamkeit, diesem Architekten, der zugleich Archäologe und Häuserchirurg ist? Mit 74 Jahren muss er niemandem mehr etwas beweisen und schon gar nicht hektisch sein Lebenswerk vollenden. Er behauptet auch nicht, dass er Kontrapunkte setzen möchte zum Bauwahn des 21. Jahrhunderts. Aber er sagt: „Es gibt zu viele Häuser, die respektlos kaputt gemacht wurden.“ Vielleicht wird das einmal sein Vermächtnis sein. Ein architektonisches Plädoyer gegen das Vergessen – und für den Respekt.
Ruch selbst wäre das wohl zu pathetisch. Er führt seine Hände langsam im Halbkreis nach unten, so als wolle er eine Schutzhülle bauen. Dann sagt er, ganz langsam und diesmal kein bisschen skulptural: „Wir konnten Heuställe retten.“
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