10 Jahre nach der Lehman-Pleite Finanzkrise ohne Ende – drei Bücher, um die Katastrophe und ihre Folgen zu verstehen
Berlin Die Buchverlage in Großbritannien machten kürzlich eine überraschende Entdeckung auf ihren Bestsellerlisten: Unmittelbar nach der Finanzkrise von 2008 suchten viele Leser Zuflucht in Fantasy-Büchern wie Stephenie Meyers „Twilight“-Serie.
Offenbar waren jugendliche Vampire weniger schauerlich als die Blutsauger der Finanzwelt. Zehn Jahre nach den dramatischen Ereignissen im September 2008 wird es deshalb Zeit, die Fluchtursachen noch einmal unter die Lupe zu nehmen.
Die Geschichte solcher historischen Ereignisse aufzuschreiben ist insbesondere dann nicht leicht, wenn niemand weiß, wann und wie die Sache ausgeht. Auch wenn gerade viele Deutsche glauben, die Krise sei überwunden und habe im Übrigen im fernen Amerika stattgefunden: Dem ist nicht so.
Europas Banken sind stabilisiert, aber nicht gesund. Die Schuldenstände sind vielerorts sogar höher als 2008. Der populistische Aufstand gegen das „System“ und seine Eliten ist in vollem Gange – hierzulande ebenso wie in Amerika.
Es ist deshalb nicht nur Nostalgie, noch einmal in die dunklen Septembertage von 2008 „zurückzureisen“ und vom Epizentrum des Weltfinanzbebens die bis heute andauernden Erschütterungen nachzuverfolgen.
Drei Bücher weisen den Weg für die Zeitreise: Bereits ein Jahr nach der Kernschmelze der Finanzwelt lieferte der amerikanische Journalist Andrew Ross Sorkin mit seinem Buch „Too Big to Fail“ (deutscher Titel: Die Unfehlbaren) bis heute besten „Live-Mitschnitt“ damaliger Ereignisse.
Andrew Ross Sorkin: Too Big to Fail
Sein Buch liest sich auch heute noch wie ein Krimi, der die Dramatik der Stunden vor und nach der Lehman-Pleite wieder aufleben lässt: die verzweifelten Telefonanrufe, mit denen Lehman-Chef Richard Fuld den damaligen US-Finanzminister Hank Paulson noch in letzter Minute von der Rettung seiner Investmentbank überzeugen wollte.

Andrew Ross Sorkin: Die Unfehlbaren
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart 2010
624 Seiten
4,50 Euro
ISBN: 978-3421044884
Oder die gespenstischen Krisensitzungen im düsteren Foyer der New Yorker Notenbank an der Liberty Street, wo der lokale Fed-Chef Timothy Geithner den gefallenen Starbankern der nahe gelegenen Wall Street den Rettungsring verweigerte.
Der Reporter der „New York Times“ hat wie kaum ein anderer die Weltuntergangsstimmung von damals festgehalten. Die Dimension der Krise konnte Ross Sorkin damals allerdings noch nicht ermessen: „Als ich vor einem Jahrzehnt ‚Too Big to Fail‘ geschrieben habe, wusste ich, dass die Krise die Wall Street und die Wirtschaft neu definieren würde“, schreibt er heute, „ich habe jedoch unterschätzt, wie fundamental sie auch die politische Landschaft umkrempeln würde.“
Dass die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten eine direkte Folge der Finanzkrise gewesen sei, gehört für ihn zu den Nachbeben von 2008. Steve Bannon, Trumps ehemaliger Politstratege, geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet mit Blick auf den wachsenden Populismus in Europa: „Die Lunte, die damals (2008) entzündet wurde und letztendlich zur Trump-Revolution geführt hat, brennt heute in Italien.“
Adam Tooze: Crashed
Genau hier beginnt die zweite Geschichte der Finanzkrise, die der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem gerade erschienenen Buch „Crashed“ aufgeschrieben hat. Tooze unternimmt auf mehr als 700 Seiten den Versuch, die damaligen Ereignisse mit dem Wissen von heute neu einzuordnen, den internationalen Charakter der Krise herauszuarbeiten und ihre politischen Nachwirkungen bis hin zum Brexit und zum Aufstand der Populisten in Europa zu analysieren.

Adam Tooze: Crashed: Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben
Siedler Verlag
München 2018
800 Seiten
38 Euro
ISBN: 978-3827500854
Tooze räumt zunächst mit der immer noch verbreiteten Vorstellung auf, dass die Finanzkrise vor allem ein amerikanisches Problem gewesen sei, wie es etwa der frühere Bundesfinanzminister Peer Steinbrück Ende September 2008 behauptete. Europäische Banken hatten sich ihre Depots mit toxischen Immobilienpapieren aus den USA vollgestopft, langfristige Darlehen extrem kurzfristig finanziert und die eigene Risikokontrolle schleifen lassen.
Der Autor zeigt anhand von Beispielen, wie die Subprime-Krise in den USA erst eine europäische Bankenkrise und später dann die Schuldenkrise in der Euro-Zone auslöste. Für Tooze war und ist die Finanzkrise von 2008 eine „Krise des westlichen Kapitalismus“.
Es gehört zu den Stärken seines Buches, dass er die Abhängigkeiten im Weltfinanzsystem schonungslos offenlegt. Wer heute angesichts der exterritorialen Wirkungen von US-Sanktionen etwa von einer eigenen finanziellen Rolle Europas träumt, sollte dieses Kapitel genau lesen. Tooze zeigt darin, dass Europas Banken 2008 reihenweise zahlungsunfähig geworden wären, hätte die Fed nicht mit Dollar-Swaps ihre Liquidität gesichert.
So rigoros der an der New Yorker Columbia-Universität lehrende Historiker die europäische „Krisenamnesie“ entlarvt, so gnadenlos kritisiert er danach das wirtschaftspolitische Krisenmanagement vor allem der Europäer. Während die USA und China die Krise mit schnellen Zinssenkungen, unkonventionellen Maßnahmen und riesigen Konjunkturprogrammen bekämpften, schaltete Europa spätestens nach Ausbruch der Schuldenkrise in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien in den Sparmodus um.
„Austerität“ wurde zu einem politischen Kampfbegriff um die Deutungshoheit in Europa. Für Tooze hat die vor allem von Deutschland betriebene Sparpolitik die Nachwirkungen der Finanzkrise unnötig verstärkt und verlängert.
Für seine Kritik am zögerlichen Krisenmanagement der Europäer erntet der Autor den größten Widerspruch. Der US-Ökonom Kenneth Rogoff, der zusammen mit seiner Kollegin Carmen Reinhart selbst ein Standardwerk zur Finanzkrise geschrieben hat (This Time Is Different, 2009), wirft Tooze faktische Fehler vor und beschuldigt ihn der nachträglichen Besserwisserei.
Weder würde der Brite die Konstruktionsmängel der Euro-Zone ausreichend berücksichtigen, noch erkenne er die Leistung von Politikern wie der deutschen Kanzlerin Angela Merkel für die Einheit Europas an, schreibt Rogoff in einer Replik auf der Meinungsplattform Project Syndicate.
Tooze ist hier angreifbar, weil er sich oft nur auf journalistische Quellen stützt oder stützen kann, die einer wissenschaftlichen Prüfung nicht immer standhalten.
Weitaus weniger umstritten ist seine politische Analyse. Überzeugend zeigt Tooze auf, wie die Finanzkrise strukturelle Krankheiten des Kapitalismus wie die ungleiche Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen epidemisch verstärkt hat. Die auch daraus resultierende Wut auf die wirtschaftlichen und politischen Eliten des Westens habe uns letztlich jene Systemkrise beschert, von der Trump und andere Populisten heute profitierten.
Am Ende seines Buches vergleicht Tooze die Finanzkrise mit der fragilen Weltlage von 1914 und fragt, ob wir womöglich in noch größere Konflikte hineinschlittern. Selbst wenn das Risiko eines Weltkriegs heute geringer ist, die Gefahr, dass die nächste Finanzkrise von nationalistischen Populisten à la Trump bekämpft werden müsste, ist groß genug.
Michael Lewis: The Big Short
Wer nach diesen düsteren Prophezeiungen eine Aufmunterung braucht, dem sei der Klassiker „The Big Short“ (2010) von Michael Lewis empfohlen. Der Starautor bestätigt darin die alte Lebensweisheit, dass jede Krise auch eine Chance bereithält. Das war in der Finanzkrise nicht anders. Während die meisten Wall-Street-Banken die Party auf den Immobilienmärkten so lange auskosten wollten, „bis die Musik stoppt“ (so der ehemalige Citigroup-Chef Chuck Prince 2007), gab es schon damals Finanzinvestoren, die auf den bevorstehenden Crash wetteten und später steinreich wurden.

Michael Lewis: The Big Short – Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte
Campus Verlag
Frankfurt 2018
319 Seiten
9,99 Euro
ISBN: 978-3593393575
Mit diesem Perspektivenwechsel, der 2015 in einem Hollywoodstreifen verfilmt wurde, gelingt Lewis etwas Außerordentliches. Der Leser erlebt die Krisenjahre in zwei Parallelwelten: hier die Finanz-Lemminge, die dem Abgrund entgegenfeiern, dort zum Teil skurril erscheinende Finanzfreaks, die mit viel Mathematik und Akribie, aber vor allem dank ihres gesunden Menschenverstands das Unglück kommen sehen und ihre Chance zu nutzen wissen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.