Homeoffice Die Coronakrise beschleunigt Digitalisierungsprozesse in der Finanzbranche

Selbst bei den großen Investmentbanken arbeiten rund 90 Prozent der Mitarbeiter von zuhause aus.
London Als Roman Gaiser im Homeoffice anfing, brauchte er zunächst ein paar Tage zur Eingewöhnung. „Es war schon disruptiv“, sagt der Chef für Hochzinsanleihen beim Vermögensverwalter Columbia Threadneedle in London.
Seit Beginn der Corona-Ausgangssperre sitzt er zu Hause mit zwei Laptops und einem großen Bildschirm in der Mitte. „Erst mal musste man das Set-up optimieren“, sagt er. In der ersten Woche habe man auch im Markt gespürt, dass viele Händler mit sich selbst beschäftigt waren. „Es gab etwas Sand im Getriebe“, erzählt Gaiser.
Doch inzwischen hat sich die Lage in London entspannt. Viele Banker, Broker und Fondsmanager sind positiv überrascht, wie gut der Handel am heimischen Rechner funktioniert. „Ich hatte noch keine Probleme“, berichtet ein anderer Fondsmanager. Die Technik laufe, ebenso wie die Kommunikation mit seinem fünfköpfigen Team.
Was vor Kurzem in der Finanzbranche noch als unmöglich dargestellt wurde, geht in der Krise plötzlich doch. Selbst bei den großen Investmentbanken arbeiten rund 90 Prozent der Mitarbeiter von zu Hause aus. Die britische Finanzaufsicht FCA hat die Regeln temporär so weit gelockert, dass nicht mehr alle Börsenhändler unbedingt im Handelssaal sitzen müssen.
Die Technologie sei kein Hindernis, heißt es bei einer britischen Großbank. Es gebe elektronische Möglichkeiten, Leute zu kontrollieren. Auch im Handelssaal sei es ja nicht so, dass ein Kollege den Händlern tatsächlich über die Schulter guckt.
Mancher hofft nun auch langfristig auf einen Digitalisierungsschub und ein Überdenken bisheriger Arbeitsabläufe. Zwar ist die Finanzbranche schon weitgehend durchdigitalisiert, doch es gibt noch Ecken mit Nachholbedarf. Zum Beispiel die London Metal Exchange (LME): Die Rohstoffbörse ist weltweit einer der letzten Handelsplätze mit Präsenzhandel.
Der Handel wird zu 85 Prozent bereits elektronisch ausgeführt, doch gibt es immer noch den „Ring“ mit Brokern auf dem Parkett. Dieser ist nun wegen der Pandemie geschlossen. Der Ring werde wieder öffnen, wenn die Krise vorbei sei, versichert die Börse.

Die Rohstoffbörse ist weltweit einer der letzten Handelsplätze mit Präsenzhandel. Der „Ring“ mit Brokern auf dem Parkett ist aktuell aber geschlossen.
Beobachter sind sich nicht so sicher. „Wenn der Markt mehrere Monate lang elektronisch gut läuft, könnte es schwer werden, zum Präsenzhandel zurückzukehren“, sagt der langjährige Rohstoffhändler Geoffrey Sambrook, der die Branche als Experte immer noch verfolgt. Durch die Abschaffung ihrer Teams auf dem Parkett könnten die Brokerhäuser ein Drittel der Kosten sparen, schätzt Seabrook.
Solche Effizienzgewinne könnten nach der Krise attraktiv sein. Schon nach der Übernahme der LME durch den Börsenbetreiber HKEX aus Hongkong im Jahr 2012 war erwartet worden, dass der Präsenzhandel früher oder später eingestellt würde.
Die Coronakrise wird aber nicht alles in der Finanzbranche auf den Kopf stellen – genauso wenig, wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 die Wall Street damals nachhaltig verändert haben. Viele Londoner Banker und Fondsmanager freuen sich bereits auf die Rückkehr in die City, denn der informelle Informationsaustausch beim Kaffee oder Feierabendbier ist ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit.
Die Zwangspause kann aber jene Digitalisierungsprozesse beschleunigen, die ohnehin schon auf dem Weg waren. Beim Versicherungsmarkt Lloyd’s etwa stößt die Umstellung auf die hausinternen elektronischen Plattformen seit Jahren auf hinhaltenden Widerstand. Einzelne Broker bevorzugten weiter das persönliche Gespräch und das Papier.
Nun ist der Underwriting Room in dem futuristischen Hochhaus jedoch schon seit knapp vier Wochen geschlossen. Den Brokern bleibt nichts anderes übrig, als ihre Geschäfte über Telefon, E-Mail und die elektronischen Plattformen abzuwickeln – der beste Rückenwind für die Digitalstrategie des Vorstands.
Alle Gespräche per Videoschalte
Selbst in Bereichen, die von persönlichem Austausch leben wie die Personalvermittlung, könnte die Coronakrise ihre Spuren hinterlassen. „Wir sprechen ja immer von der Digitalisierung“, sagt Matthias Schulthess, Headhunter für Finanzdienstleister. „Jetzt ist sie Realität.“
Er hat gerade eine Führungsposition in New York besetzt, bei der alle Gespräche per Videoschalte stattfanden. Das werde nicht so oft passieren, räumt er ein. Auch in Zukunft werde es bei der Managersuche wichtig sein, sich die Hand zu schütteln und sich in die Augen zu schauen. Aber man könne das Reisen deutlich verringern, wenn der Kunde einverstanden sei, sagt er. „Müssen wir wirklich jeden Kandidaten nach Hongkong oder London fliegen, oder reicht vielleicht in den ersten Runden auch eine Videoschalte?“
Auch im Beratungsgeschäft ist in der Krise nicht alles schlecht. Zwar liegen fast alle Übernahmen und Fusionen auf Eis, dafür brummt das Restrukturierungsgeschäft. Und dadurch, dass alle in der gleichen Situation sind, ergeben sich ungewohnte Gelegenheiten zum Gespräch. „Wir haben viel mehr Austausch mit Kunden“, berichtet ein Investmentbanker. „Die CEOs haben mehr Zeit. Sie sitzen jetzt auch zu Hause statt im Flieger.“ Es sei eine gute Zeit, um sich besser kennenzulernen – und sei es nur per Video.
Er bezweifelt jedoch, dass dies nach dem Ende der Krise so bleiben wird. „Auch nach früheren Ereignissen gab es die Hoffnung, dass sich alles ändert. Hinterher ging es dann ziemlich schnell zurück in den alten Trott“, sagt er.
Theoretisch könne man das Beratungsgeschäft auch dauerhaft von zu Hause aus betreiben. Aber es gebe den Bedarf, sich mit Kollegen auszutauschen, um eine Firmenkultur zu bewahren. Das Unternehmen habe ja auch eine soziale Funktion. Er kann sich vorstellen, dass künftig weniger geflogen wird. Und das Homeoffice könne stärker als Teil der Arbeitswoche akzeptiert werden, sagt er. „Man muss vielleicht nicht mehr jeden Tag ins Büro.“
Mehr: Homeoffice, Kurzarbeit, Entlassungen – So verändert Corona die Arbeitswelt.
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