Gastkommentar: China wird die europäischen Sonderzölle auf Elektroautos vorerst akzeptieren
Die Entscheidung der Europäischen Kommission, Sonderzölle („Counterveiling Duties“) von bis zu 38 Prozent auf chinesische Elektroautos zu erheben, um Subventionen durch den chinesischen Staat auszugleichen und Wettbewerbsgleichheit herzustellen, hat für Furore gesorgt. Es wird von einem beginnenden Handelskrieg zwischen der Europäischen Union (EU) und China gewarnt. Sind die Ängste vor einem Handelskrieg berechtigt?
Nur kurzfristig ist mit einigem Säbelrasseln und chinesischen Vergeltungszöllen zu rechnen
Zur besseren Einordnung bietet es sich an, kurz-, mittel- und langfristige Folgen der Sonderzölle gesondert zu betrachten. Kurzfristig muss man zunächst mit einigem Säbelrasseln vonseiten Chinas und mit Vergeltungszöllen rechnen. Die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zu Staatsbeihilfen sind unscharf und haben es Staaten bisher stets einfach gemacht, derartige Sonderzölle zu erheben und zu vergelten. Die andauernde Lähmung des WTO-Streitbeilegungsmechanismus hat diese Tendenzen nur verstärkt.
Somit liegt es nahe, dass China vor allem französische und deutsche Exporte demnächst mit Strafzöllen belegen dürfte. Die Gründe: Frankreich gilt als der Hauptbefürworter der europäischen Sonderzölle. Und die Deutschen sollen dazu gebracht werden, gegen diese Sonderzölle verstärkt anzugehen und eine weitere Verschärfung durch die EU zu verhindern. Derartige Strategien sind etablierte Praxis im Welthandel.
Ich gehe nicht davon aus, dass diese Entwicklungen zu einem veritablen Handelskrieg heranwachsen dürften. Letztlich bleiben die europäischen Sonderzölle nämlich deutlich hinter den US-Sonderzöllen für Elektroautos von 100 Prozent zurück. Dieses spiegelt sich auch in den Hongkonger Börsenkursen chinesischer Elektroautobauer der vergangenen Woche wider. Nach der Verkündung der europäischen Sonderzölle brachen diese nicht ein, wie man hätte vermuten können, sondern schnellten in die Höhe – aufgrund von Erleichterung über die „Milde“ der Europäer.
Die EU-Sonderzölle und Chinas Antwort sind Teil einer größeren geopolitischen Gemengelage
Dass sowohl die EU wie auch China von einer kurzfristigen Eskalation in den nächsten Wochen und Monaten absehen dürften, liegt aber auch am globalen Kontext. Dieses Jahr wird im November in den USA gewählt, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass Europäer und Chinesen erneut zusammenarbeiten müssen, um Donald Trump in Schach zu halten.
Ebenso dürfte viel von den weiteren Entwicklungen in der Ukraine, Russland und Taiwan in den nächsten Monaten und Jahren abhängen. Die europäischen Sonderzölle und die chinesische Antwort darauf existieren nicht in einem wirtschaftspolitischen Vakuum, sondern sind Teil einer größeren geopolitischen Gemengelage, in der die EU und China durchaus noch Interesse an Kooperation haben.
Diese vermeintlich positive Einschätzung der kurz- und mittelfristigen Folgen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäischen Sonderzölle Symptome und Antwort auf eine existenzielle Krise der heutigen Weltwirtschaftsverfassung darstellen. Diese Krise ist begründet im Aufschwung Chinas und Asiens als neue wirtschaftliche und politische Machtzentren sowie im Aufeinanderprallen grundlegend unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme.
Das Regelwerk der WTO wurde maßgeblich von den westlichen Demokratien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit „freien Märkten“ geschrieben. Nicht-OECD-Staaten spielten im Welthandel über Jahrzehnte nur eine untergeordnete Rolle.
Viele Grundregeln – wie etwa der Umgang mit Staatsbeihilfen und damit verbundenen Wettbewerbsverzerrungen – wurden damals bewusst unscharf gehalten, um Kooperation zwischen so unterschiedlichen Volkswirtschaften wie den USA, Japan oder Frankreich zu ermöglichen. Der wirtschaftliche Aufstieg und WTO-Beitritt Chinas hat nun diese „constructive ambuiguity“ der WTO überreizt.
Die Unschärfe der WTO-Regeln wird in vielen OECD-Staaten als Quelle existenzieller Wettbewerbsverzerrungen wahrgenommen. Die europäischen Sonderzölle sind ein Symptom ebendieser systemischen Kräfte, die sich im Zusammenprallen äußerst unterschiedlicher Wirtschaftssysteme im Rahmen unscharfer WTO-Regeln nun entfalten. Diese strukturelle Krise geht tiefer als ein punktueller Handelskrieg und bedarf bei Politik und Unternehmen eines Paradigmenwechsels im Denken über die WTO und die Weltwirtschaftsverfassung.
Der Westen ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Das dürfte über die nächsten Jahrzehnte der Weltgemeinschaft eine Vielzahl neuer Regeln sowie schwieriger und politisierter Kompromisse abverlangen.
Der Autor: Robert Basedow ist Professor für International Political Economy an der London School of Economics and Political Science (LSE).
Erstpublikation: 09.07.2024, 04:28 Uhr.