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GastkommentarWarum wir mit der Viertagewoche niemals glücklich werden

Die Viertagewoche ist nicht Lösung, sondern Symptom einer Arbeitswelt, die viele als sinnlos und überfordernd empfinden, meint Ingo Hamm. Er hat eine andere Idee. 03.07.2024 - 09:50 Uhr
Der Autor Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt. Foto: Julian Beekmann, Getty Images [M]

„Weniger arbeiten, mehr leben!“, schallt es überall. Die Viertagewoche ist zum Sehnsuchtsort einer erschöpften Gesellschaft, zum heiligen Gral der Work-Life-Balance geworden. Doch während wir von überlangen Wochenenden träumen, bröckelt die Realität. Von der überforderten Krankenschwester über erkrankte Stellwerk-Kollegen bis zum genervten Paketboten – überall sind die Symptome einer chronisch unterbesetzten Gesellschaft, eines Service- und Behörden-GAUs zu erkennen.

Die Arbeitsmoral bröckelt, der Ehrgeiz schwindet, der Wunsch nach Ruhestand ist groß

Die Bundesrepublik steckt in der Krise – nicht nur aus Verbrauchersicht. Produktivität und Standortattraktivität sind gesunken, die Arbeitsmoral bröckelt, der Wunsch nach Ruhestand ist groß. Zudem fehlt es an unternehmerischem Ehrgeiz. Immer weniger sind bereit, in Führungspositionen Verantwortung zu übernehmen. Deutschland verliert den Anschluss.

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Das kann kein Anspruch sein, wenn man vom Selbstverständnis her spitze sein möchte und sich nicht nur als Exportweltmeister und Land der Hidden Champions, sondern auch als internationaler Vorreiter in der Umsetzung von Schlüsseltechnologien zum Wohle der Menschen versteht. Aber Anspruch und Sendungsbewusstsein allein reichen nicht, da muss mehr kommen – nicht nur vom Staat.

Die Viertagewoche ist dafür alles andere als geeignet, sie ist nicht Lösung, sondern Symptom – ein verzweifelter Fluchtversuch vor einer Anspruchsmentalität und Arbeitswelt, die viele als sinnlos, überfordernd und zuweilen auch übergriffig empfinden.

Wir tun und machen, wir rennen und funktionieren, doch am Ende des Tages bleibt das Gefühl: „Was habe ich eigentlich bewirkt? Wo ist das Ergebnis meiner Arbeit?“ In einer modernen Arbeitswelt geht der direkte Bezug zwischen Anstrengung und Ergebnis, zwischen Tun und Wirkung leicht verloren.

Deutschland erlebt heute die Renaissance des Fließbands in digitalen Zeiten

Dieser Widerspruch zermürbt viele und raubt ihnen die Freude an der Arbeit. Es ist die Renaissance des Fließbands in digitalen Zeiten: Hoher Output bei minimalem Einfluss und maximaler Entfremdung. Zudem sorgen unglückliche wirtschafts- und sozialpolitische Bedingungen dafür, dass sich Erwerbsarbeit zu wenig lohnt, wenn ohnehin alles teurer und unerreichbar erscheint.

Aber nicht alle Viertage-Apologoten träumen von Hängematte oder heimlichem Kurzurlaub. Oft sind es die ins Private abgeschobenen Pflichten des dysfunktionalen Alltags: Kitas schließen früher; lange Schlangen in nicht digitalisierten Ämtern; Handwerker, die spät oder gar nicht kommen; „Friss oder Stirb“-Termine bei Fachärzten; Pendler-Albträume in Dauerbaustellen bei Bahn und Autobahn.

Weder Staat noch Wirtschaft können davon ausgehen, dass unter solchen Umständen die Menschen „Hier!“ rufen, wenn es heißt: „Bitte mehr Arbeit, zurück ins Büro, Hauruck und mehr Leistung!“ Dabei haben wir das Potenzial, ja die Verpflichtung, den 12,5 Millionen Menschen in Teilzeit vernünftige Angebote zu machen, damit sie wieder mehr oder länger arbeiten. So könnten sie ihr Wissen und ihre Fähigkeiten einbringen – das geht nur mit Rahmenbedingungen, die entlasten und nicht nur eine Frage des Geldes sind.

Wir brauchen nicht nur eine ökonomische Sicht auf Leistung, sondern eine psychologische. Nicht mehr, sondern besser arbeiten – wieder gerne arbeiten, Jobs machen, die uns liegen.
Ingo Hamm

Wir brauchen nicht nur eine ökonomische Sicht auf Leistung, sondern eine psychologische. Kahnemann statt Keynes: Nicht mehr, sondern besser arbeiten – wieder gerne arbeiten, Jobs machen, die uns liegen. Wir müssen junge Menschen besser in ihren Kompetenzen stärken und aufs richtige Gleis setzen, Flexibilität in Karrieren fördern und die Erfahrungen Älterer mehr wertschätzen – Schluss mit dem Generationen-Bashing, wir alle müssen und können unseren Beitrag leisten. Dafür brauchen wir Unternehmen und Führungskräfte, die das kreativ unterstützen.

Wir brauchen ein neues Narrativ von Arbeit, jenseits von Turbokapitalismus, Bullshit-Jobs und Neoliberalismus. Arbeiten ist gut, wenn man machen kann, was man wirklich gerne macht und immer schon gut konnte. Warum akzeptieren wir das im Sport, in Kultur, bei schillernden Start-ups, aber nicht im deutschen Arbeitsalltag?

Der Mensch ist ein schaffendes Wesen, von Kindesbeinen an, natürlich getrieben von dem Wunsch, etwas zu bewegen. Dieser zutiefst menschliche Drang ist die Quelle echter Erfüllung – diese kommt nicht vom Nichtstun, sondern vom Machen, vom Einsatz, vom Werkstolz.

Die Viertagewoche mag ein verführerischer Gedanke sein. Ein Trostpflaster für eine Gesellschaft, die den Bezug zu ihrer ureigenen Schaffenskraft verloren hat. Zeit also, die Komfortzone zu verlassen, die Ärmel hochzukrempeln und sich der Realität stellen.

Der Autor:
Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt.

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Erstpublikation: 02.07.2024, 09:37 Uhr.

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