Gastkommentar: Das nationale Ausnutzen europäischer Gesetzgebung muss ein Ende haben

Wenn man auf die überbordende Bürokratie in unserem Land zu sprechen kommt, wird schnell die Europäische Union (EU) dafür verantwortlich gemacht. Dies war, wenn man an die berüchtigte Gurkenkrümmungsverordnung denkt, lange Zeit auch nicht unberechtigt. Doch es ist klar: Wer einheitliche Standards im Binnenmarkt will, der muss auch in Kauf nehmen, dass jeweils 27 nationale Gesetze angepasst werden. So war es mit den einheitlichen Ladegeräten für Handys, den Roaming-Gebühren oder vielen Verbraucherschutzgesetzen.
Der Weg zum europäischen Binnenmarkt ist eben auch voller Vorschriften. Doch was Unternehmern wie Verbrauchern als ausufernde Bürokratie begegnet, muss nicht immer eine europäische Grundlage haben.
Nicht selten hat das Gold-Plating handfeste protektionistische Hintergründe
Denn oft sind es eher die nationalen Regierungen, die höhere oder zusätzliche Standards als europäisch beschlossen festlegen. Diesen Effekt nennt man „Gold-Plating“. Es handelt sich keineswegs um eine Veredelung, wie der Name es vermuten lässt, sondern vielmehr um das bewusste Ausnutzen europäischer Gesetzgebung für die eigenen politischen Zwecke.
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Nicht selten hat das Gold-Plating handfeste protektionistische Hintergründe. Bürokratische Hürden werden quasi als nationale Bastionen zum Schutz vor dem freien Wettbewerb in der EU errichtet. Sie dienen als Abwehrmaßnahme gegen den freien Wettbewerb in Europa und zum Schutz der eigenen Märkte.
Letzteres konnte man besonders gut am Beispiel der EU-Entsenderichtlinie im Jahr 2020 sehen. Diese hatte den Zweck, vergleichbare Bedingungen für Arbeitskräfte zu schaffen, die aus einem Mitgliedstaat stammen, aber in einem anderen arbeiten. Als zusätzliche bürokratische Hürde verlangten die Behörden in einigen Mitgliedstaaten mehr Informationen von den Arbeitgebern, als die Richtlinie es vorschrieb.
Die französischen Behörden verlangten ganze 14 zusätzliche Informationen, darunter Angaben zur Arbeitszeit, zur Unterbringung, zum Gehalt oder zu dienstlichen Auslagen. Das hatte wenig mit dem Zweck der Richtlinie, aber viel damit zu tun, den Zugang billiger Arbeitskräfte aus den östlichen Mitgliedstaaten zum französischen Arbeitsmarkt zu erschweren. Das „bürokratische Veredeln“ von europäischen Vorgaben ist deshalb kein Zufall oder das Ergebnis einer schlechten administrativen Umsetzung, sondern regelmäßig Teil einer politischen Strategie. Deutschland ist da keine Ausnahme.
Einzelne Staaten kreieren wettbewerbsverzerrende Varianten der EU-Vorschriften
Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Verzögerte Umsetzungen und höhere als die verlangten Anforderungen sind zwar die bekanntesten, nicht aber die üblichen Mittel. Es werden zum Beispiel anspruchsvolle Anwendungsschwellen errichtet, begleitende nationale Regelungen ohne Kontext zur europäischen Vorgabe eingeführt oder mögliche Ausnahmen nicht genutzt – so zum Beispiel in Deutschland: Die in der Bundesrepublik geltende Ausnahme von der KfZ-Pflichtversicherung für selbstfahrende Arbeitsmaschinen bis zu 20 Kilometer pro Stunde war nach der „Richtlinie 2021/2118“ eingerichtet. Die Bundesregierung nutzte jedoch diese Ausnahmemöglichkeit nicht. Es gibt eben auch ein passives Gold-Plating, also in diesem Fall das Nichtnutzen von möglichen Ausnahmen oder die Aufrechterhaltung von Binnenmarktbarrieren durch gesetzgeberisches Nichtstun.
Die Liste solcher wettbewerbsverzerrenden Varianten ist lang. Frankreich beispielsweise verpflichtete vor einigen Jahren – anders als die entsprechende Richtlinie es vorsah – auch kleinere Unternehmen, ihre Jahresabschlüsse durch Wirtschaftsprüfer erstellen zu lassen. Andere Mitgliedstaaten führten nationale Genehmigungsvorbehalte für technische Herstellungsprozesse bei wesentlich geringeren Schwellenwerten ein, als die EU es vorschrieb. In Deutschland wurden im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten zusätzliche Beteiligungspflichten für Verbraucherschutzverbände eingeführt.
All diese Maßnahmen dienten nicht dem Ziel vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt, sondern arbeiten auf unterschiedlichen Wegen exakt dagegen. Die Frage ist, wie man die vielen nationalen Stolpersteine auf dem Weg zu einem besseren EU-Binnenmarkt abbauen kann.
Österreich hat vor einigen Jahren ein Anti-Gold-Plating-Gesetz verabschiedet. Das Gesetz nahm in bestimmten Bereichen die über die unionsrechtlichen Mindestvorgaben hinausgehenden Regelungen zurück. Betroffen davon waren zum Beispiel Vorschriften im Börsengesetz, im Abfallwirtschaftsgesetz oder im Investmentfondsgesetz.
Ein solches Anti-Gold-Plating-Gesetz wäre auch in Deutschland sinnvoll. Nicht nur, zur Beseitigung der bisher aufgebauten Wettbewerbshindernisse, sondern auch als Instrument, künftiges Gold-Plating zu verhindern. Es wäre ein breitgefächerter und europarechtskonformer Beitrag zur Entbürokratisierung in unserem Land.



Der Autor:
Manfred Pentz ist Entbürokratisierungsminister in Hessen.
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