1. Startseite
  2. Meinung
  3. Gastbeiträge
  4. Gastkommentar: Kreislaufwirtschaft kann Europas neues Erfolgsmodell sein

GastkommentarKreislaufwirtschaft kann Europas neues Erfolgsmodell sein

Europas Industrie bietet weltweit die beste Voraussetzung für ein neues Modell, das Ressourcen erhält, verlängert und zurückgewinnt. Das sorgt auch für Wachstum, meint Dirk Voeste. 29.12.2025 - 13:57 Uhr Artikel anhören
Der Autor: Dirk Voeste leitet als Chief Sustainability Officer den Bereich Nachhaltigkeit bei Volkswagen. Foto: imago images/Joerg Boethling, Volkswagen AG

Europa steht an einem Wendepunkt: Unser industrielles Erfolgsmodell – getragen von Ingenieurskunst, Exportstärke, verlässlichen globalen Märkten und günstiger Energie – steht unter Druck. Geopolitische Konflikte, Klimarisiken und volatile Rohstoffpreise haben die bestehenden Grundannahmen verändert.

China ist vom Absatzmarkt zum technologiepolitischen Wettbewerber geworden. Die USA nutzen industriepolitische Programme, um Wertschöpfung zurückzuholen. Die Folge: Resilienz ist das neue Leitbild.

Europa verfügt jedoch über einen unterschätzten Vorteil: eine der dichtesten Industrielandschaften der Welt – und damit die beste Voraussetzung für systemische Kreislaufwirtschaft. Sie ist mehr als ein ökologisches Konzept. Sie kann technologische Innovationskraft und wirtschaftliche Unabhängigkeit mit Wachstumspotenzial und Dekarbonisierung verbinden. Deutschland und Europa können und müssen hier Standards setzen, ehe es andere tun.

Derzeit sind nur sieben Prozent der Weltwirtschaft zirkulär. Entgegen dem allgemeinen Verständnis ist Kreislaufwirtschaft mehr als nur Recycling – es ist die effizientere Nutzung von Ressourcen. Jährlich werden über 100 Milliarden Tonnen Primärrohstoffe verbraucht – und 4,5 Billionen US-Dollar an potenzieller Wertschöpfung, die sich mit Kreislaufwirtschaft erzielen ließe, bleiben ungenutzt. Wir leben immer noch im linearen Industriemodell des 19. Jahrhunderts – entnehmen, nutzen, entsorgen. Dieses Modell ist erkennbar zu riskant und endlich geworden.

Wir dürfen bei Batterien nicht von China abhängig sein

Für Europa ist das eine doppelte Herausforderung: Wir besitzen kaum eigene Rohstoffreserven. Gleichzeitig verlassen Altfahrzeuge und -materialien den Kontinent – wertvolle Rohstoffe, die wir für die eigene Wertschöpfung benötigen. Wenn wir wettbewerbsfähig und gleichzeitig unabhängig sein wollen, müssen wir eine Industrie schaffen, die Ressourcen erhält, verlängert und zurückgewinnt.

Mit Produkten, die so konstruiert sind, dass sie zerlegt, repariert, nachgerüstet und recycelt werden können. Oder die wie Batterien aus Elektrofahrzeugen zunächst ein zweites Leben in anderen Anwendungen erhalten, etwa als Energiespeicher, und anschließend hochwertige Materialien für neue Zellen liefern. Wertschöpfung endet nicht am Werkstor, sie beginnt am Lebensende eines Produkts.

Das eröffnet einen neuen industriellen Raum: eine rückwärts gerichtete Wertschöpfung, die mindestens genauso profitabel sein kann wie die lineare.

Der Wandel zur Elektromobilität ist richtig, notwendig und wird stattfinden. Sie senkt Emissionen und reduziert die Abhängigkeit von Ölimporten. Doch sie schafft neue geopolitische Abhängigkeiten: Rund drei Viertel der globalen Batteriewertschöpfung liegen in China. Ohne eigene Kapazitäten in Europa riskieren wir, die Abhängigkeit von Öl durch eine Abhängigkeit von Batterien zu ersetzen.

Kreislaufwirtschaft schafft Wachstum

Wir stehen vor der Herausforderung, uns nicht nur von fossilen Rohstoffen, sondern auch von geopolitischen Abhängigkeiten zu lösen – Kreislaufwirtschaft wird damit zum industriepolitischen Souveränitätsprojekt. Die nächste industrielle Revolution muss zirkulär werden.

Zirkularität ist Aufgabe eines gesamten Ökosystems: Lieferanten, Recyclingunternehmen, Chemie, Energieversorger, Logistiker, Universitäten und Institute. Sie bietet Chancen für Forschung und alle Industriezweige.

Darin liegt die europäische Stärke: Wir verfügen über ein Ökosystem, das sich auf Kreislaufwirtschaft schalten lässt. Großkonzerne wie Volkswagen sind in der Lage, Kreislaufwirtschaft im industriellen Maßstab umzusetzen. Genau daran arbeitet der Konzern heute schon.

Denn: Weniger Primärrohstoffe senken nicht nur die Emissionen, sondern auch Kosten und stärken damit die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen. Zudem sorgt die Kreislaufwirtschaft für Wachstum – durch die Rücknahme und Aufbereitung von Komponenten, neue Zerlege- und Trenntechnologien oder das zweite Leben beispielsweise von Batterien.

Europa hat die Chance, Kreislaufwirtschaft als industriepolitische Stärke zu nutzen. Sie ist ein Upgrade unseres industriellen Betriebssystems, verbindet Dekarbonisierung mit Ressourcensicherheit und Wachstum. Sie schafft Souveränität und Absicherung in einem globalen Wettbewerb, der sich gerade neu ordnet.

Die Industrieforschung hat Kreislaufwirtschaft bereits Anfang der 90er-Jahre als relevant für den Industriestandort Deutschland erkannt. Heute bekommt sie unter dem Druck der globalen Konstellationen eine neue Bedeutung – Europa dort zu positionieren, wo es hingehört: an die Spitze der globalen industriellen Innovation. Wir sollten diese Chance ergreifen und nicht anderen überlassen.

Verwandte Themen
Europa
China
Deutschland
Industriepolitik
Wirtschaftspolitik
Recycling

Der Autor: Dirk Voeste leitet als Chief Sustainability Officer den Bereich Nachhaltigkeit bei Volkswagen.

Mehr zum Thema
Unsere Partner
Anzeige
remind.me
Jetziges Strom-/Gaspreistief nutzen, bevor die Preise wieder steigen
Anzeige
Homeday
Immobilienbewertung von Homeday - kostenlos, unverbindlich & schnell
Anzeige
IT Boltwise
Fachmagazin in Deutschland mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und Robotik
Anzeige
Presseportal
Direkt hier lesen!
Anzeige
STELLENMARKT
Mit unserem Karriere-Portal den Traumjob finden
Anzeige
Expertentesten.de
Produktvergleich - schnell zum besten Produkt