Klimaneutralität: Wie die Energiewende sich sicher und trotzdem schnell gestalten lässt
Deutschland hat einen eigenwilligen Weg bei der Energiewende gewählt. Zuerst aus der Atomkraft und dann aus der Kohle auszusteigen ist ein Sicherheits- und ein Kostenrisiko. Aber das lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Anstatt zu jammern, muss Deutschland nach vorn gucken. Weder neue Atomkraftwerke noch die Kohle lösen die Probleme, vor denen wir jetzt stehen.
Die Frage lautet: Wie gestalten wir die weitere Energiewende, ohne Geschwindigkeit zu verlieren, aber auch ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden? Bislang geschieht die Umstellung der Erneuerbaren unter dem Mantra der Dezentralität.
>> Dieser Gastkommentar ist ein Beitrag zur großen Handelsblatt-Aktion „Zukunftsplan Deutschland“. Alle Texte finden Sie hier.
Bürgerbewegungen und Investoren sollen Windkraftanlagen errichten, Mieter Solaranlagen auf ihren Balkonen aufbauen und Hauseigentümer auf ihren Dächern. Die gesamte Energiewende so zu vollziehen ist zwar bürgernah und gut zu erzählen. Aber es wird teuer.
Es heißt häufig, Sonne und Wind schickten keine Rechnung, die Erneuerbaren würden bald so günstige Energiepreise in Deutschland ermöglichen wie nie zuvor. Die direkten Kosten für Strom aus Windkraft und Photovoltaik könnten bis 2040 zwar in optimistischen Szenarien auf rund vier bis sechs Cent je Kilowattstunde fallen.
Versteckte Kosten der Erneuerbaren Energien
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sonne und Wind schicken ihre Rechnung auf anderem Weg. Wenn die Sonne nicht scheint oder der Wind nicht weht, müssen sich die Verbraucher dem Angebot anpassen, oder es braucht weitere Technologien, um die Versorgung sicherzustellen: etwa Batteriespeicher, Gaskraftwerke und Wasserstoff.
Sowohl die Flexibilisierung der Nachfrage als auch der Zubau von Kapazitäten zur Deckung der verbleibenden Versorgungslücken sind teuer. Werden diese Aufwände eingerechnet, könnten die Stromerzeugungskosten 2040 bei acht bis zehn Cent liegen. Das wäre ein ähnliches Niveau wie heute. Und um die Versorgungssicherheit herzustellen, wird es notwendig sein, Gaskraftwerke zu bauen, die im Notfall auch fast die gesamte Nachfrage bedienen können.
Mit Blick auf die Kosteneffizienz ist es fragwürdig, Gaskraftwerke – wie es jetzt geplant ist – neu zu bauen, die Versorgungslücken aber vorwiegend mit Batterien zu decken. Der Plan, Kraftwerke nur als Reserve zur Vorhaltung zu nutzen, ist verschenktes Potenzial.
Selbst wenn die Kraftwerke zukünftig von Gas auf Wasserstoff umgestellt werden, wäre ihr Betrieb im Falle von Versorgungslücken deutlich günstiger als die Investitionskosten für den Zubau zusätzlicher Batteriespeicher.
Aber wird der Wasserstoff in ausreichender Menge zur Verfügung stehen? Allein die deutsche Industrie wird so große Mengen benötigen, dass beim aktuell absehbaren Tempo des Hochlaufs für die Kraftwerke kaum etwas übrig bleiben würde.
Deutschland darf sich nicht gegen blauen Wasserstoff sperren
Wenn wir das Ziel der Klimaneutralität schnell erreichen wollen, hilft auf dem Weg nur Pragmatismus. Die Kraftwerke sollten standardmäßig mit Erdgas betrieben werden. Und wenn für sie Wasserstoff übrig bleibt, kann dieser dem Gas beigemischt werden. Technisch sind zehn bis 20 Prozent Beimischung problemlos möglich, und die Emissionsreduktion wird durch Beimischung zunächst genau so effektiv erreicht wie durch den Betrieb einiger weniger „Wasserstoffkraftwerke“ – nur viel günstiger.
Damit aber überhaupt eine Chance besteht, dass Wasserstoff für die Kraftwerke übrig bleibt, muss der Hochlauf der Wasserstoffimporte deutlich beschleunigt werden. Es gibt weltweit zwar große Potenziale für grünen Wasserstoff. Doch bis diese gehoben sind, wird es noch dauern. Die Industrie braucht aber jetzt einen Anreiz, ihre Anlagen von fossilen Brennstoffen auf Wasserstoff umzustellen. Ansonsten drohen Abwanderungen von Betrieben aufgrund der hohen Energiepreise.
Daher darf sich Deutschland nicht gegen blauen Wasserstoff sperren. Anders als grüner Wasserstoff wird dieser aus Erdgas und nicht mit erneuerbarem Strom aus Wasser gewonnen. Der Klimaschaden durch das Gas lässt sich dabei minimieren, indem das ausgestoßene CO2 gespeichert und gelagert wird („CCS“). Länder wie Norwegen fördern heute noch viel Erdgas und könnten zunächst blauen Wasserstoff bereitstellen. Auch sie werden aber bei grünem Wasserstoff immer stärker.
Gleichzeitig müssen Anreize für möglichst viele Länder weltweit geschaffen werden, in die Wasserstoffwirtschaft einzusteigen. Länder wie Algerien, die Staaten im Nahen Osten oder Australien haben große Flächen und damit großes Potenzial für Wasserstoff. Sie hängen wirtschaftlich aber weiter von ihren Vorkommen von Gas und Öl ab. Mit blauem Wasserstoff kann man ihnen einen Transformationspfad hin zu einem globalen klimafreundlichen Energiehandel ermöglichen.
Mehr Tempo in der Wasserstoffbeschaffung würde ein gemeinsamer europäischer Einkauf bringen. Würden große Mengen ausgeschrieben, so könnte man besser diversifizieren und weitere Länder in den globalen Energiehandel einbeziehen, die hervorragende Voraussetzungen für die Erzeugung grünen Wasserstoffs haben, etwa Chile, Kolumbien oder Namibia. Durch die wettbewerbliche Beschaffung würde der Wasserstoff der Industrie mittelfristig günstiger zur Verfügung stehen.
Mit den in Deutschland entworfenen „H2 Global“-Auktionen gibt es bereits ein Instrument für die gemeinsame Beschaffung, dem sich weitere Staaten anschließen können. Dafür sollte die EU-Kommission aktiv werben. Denn gemeinsame Auktionen für große Volumina wären ein Signal an Wasserstoffhersteller, dass ein starker europäischer Markt für Wasserstoff im Entstehen ist.
Die konkreten Handlungsempfehlungen:
- Gaskraftwerke nicht nur als Reserve vorhalten, sondern auch nutzen und so redundante Investitionen vermeiden.
- Blauen Wasserstoff mit Einlagerung des entstehenden CO2 im Übergang nutzen, um schnell und zuverlässig einen globalen Wasserstoffhandel aufzubauen und Deindustrialisierung zu verhindern.
- Die EU muss Wasserstoff gemeinsam einkaufen, um die Lieferketten zu diversifizieren und schneller günstige Einkaufspreise zu erzielen.