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Beyond the obviousGesundheitssystem am Limit – Zeit für harte Entscheidungen

Selbstbeteiligung nach Einkommen und Behandlungen nach Nutzen – wer das als unethisch abtut, ignoriert eine unbequeme Wahrheit: Ohne Prioritäten ist das System nicht zukunftsfähig.Daniel Stelter 03.06.2025 - 10:00 Uhr Artikel anhören
Intelligente Medizinprodukte werden zunehmend bei Operationen eingesetzt. Foto: Leif Piechowski

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung widmet dem Gesundheitswesen ein ganzes Kapitel. Es werden Kommissionen gegründet, um Reformen für das Pflege- und Gesundheitssystem zu erarbeiten. Bis die Reformvorschläge vorliegen und umgesetzt werden könnten, sollen sowohl die Beiträge als auch die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt erhöht – Geld gibt es ja nun dank der „Sondervermögen“ – und soll der Kreis der Beitragszahler erweitert werden.

Trotz dieses Vertuschungsversuchs bleibt die bittere Wahrheit aber bestehen: Mit ein paar kosmetischen Korrekturen und den nächsten milliardenschweren Einnahmeerhöhungen lässt sich das System nicht mehr retten. Die Kosten laufen davon, während die Qualität bestenfalls Mittelmaß bleibt. All das, bevor die Systembelastung im Zuge der Alterung der Gesellschaft weiter explodiert und ihren Höhepunkt erreicht.

Deutschland gibt mittlerweile 12,8 Prozent des BIP für Gesundheit aus – mehr als jedes andere europäische Land. Die Zahl der Arztbesuche ist mit fast zehn pro Kopf und Jahr europäische Spitze, ebenso die Zahl der Krankenhausbetten. Trotzdem: Die Lebenserwartung liegt unter dem EU-Durchschnitt, die Zahl gesunder Lebensjahre ist erschreckend niedrig. 70 Prozent der Kliniken schreiben rote Zahlen. Die Arzneimittelkosten explodieren, konzentrieren sich immer mehr auf wenige, extrem teure Einzelfälle.

Gesundheitssystem ohne Steuerung

Das Problem ist nicht zu wenig Geld, sondern ein System, das falsche Anreize setzt:

    Ein niedrigschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem ohne Steuerung,ein Vergütungssystem, das Masse statt Klasse belohnt,und eine Politik, die sich um unpopuläre Maßnahmen herumdrückt.

Während andere Länder längst auf Primärarztsysteme, ambulante Versorgung und Digitalisierung setzen, feiern wir die Einführung einer elektronischen Patientenakte, die es in vielen europäischen Ländern schon seit Jahren gibt.

Der Autor: Daniel Stelter ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums beyond the obvious, Unternehmensberater und Autor. Jeden Sonntag geht auf www.think-bto.com sein Podcast online. Foto: Robert Recker/ Berlin

Der Gesundheitsökonom Boris Augurzky und der Intensivmediziner Christian Karagiannidis haben in ihrem aktuellen Buch „Die Gesundheit der Zukunft: Wie wir das System wieder fit machen“ dargestellt, was zu tun wäre, um das System kostengünstiger und zugleich besser für die Patienten zu machen. Wie viele andere Fachleute sehen die Experten erhebliche Potenziale durch die Spezialisierung von Kliniken, bei Arzneimitteln, in der Digitalisierung und durch den Abbau von Bürokratie. Sie gehen aber darüber hinaus.

Sozial gestaffelte Selbstbeteiligung

Besonders zwei Vorschläge der Experten stechen hervor. Da ist zum einen die Forderung nach einer sozial gestaffelten Selbstbeteiligung: Konkret sollen pro Jahr die Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen bis zur Höhe von maximal einem Prozent des beitragspflichtigen Einkommens selbst bezahlt werden, begrenzt auf 661,50 Euro pro Jahr, was einem Prozent der Beitragsbemessungsgrenze entspricht. Dies dient dazu, die Übernutzung des Gesundheitssystems zu reduzieren.

Beyond the obvious

Gesundheitssystem am Limit

01.06.2025
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Mindestens ebenso wichtig ist, jede medizinische Maßnahme auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis zu überprüfen. Als Grundlage dafür soll das sogenannte QALY*-System (*quality-adjusted life year) eingeführt werden, bei dem neben der Verlängerung der Lebenszeit des Patienten durch eine Therapie auch die Lebensqualität in dieser Lebenszeit ins Verhältnis zu den Therapiekosten gestellt wird. Denn, so nüchtern muss man es anerkennen, nicht alles, was möglich ist, ist auch sinnvoll.

Dazu gehören auch Mengenbegrenzungen bei besonders teuren Therapien. Beides ist in anderen Ländern längst Alltag, und wir müssen hierzulande aufhören, solche Überlegungen pauschal als unmenschlich oder unethisch abzulehnen. Auf Dauer werden wir das nämlich nicht durchhalten können.

Diese Vorschläge sind weder überraschend noch unzumutbar, wie ein Blick auf andere Länder zeigt, wo bereits so verfahren wird. Dennoch ist absehbar, dass es erheblichen, durchaus auch populistischen Widerstand gegen solche Reformen geben wird. Die neue Bundesregierung darf den Konflikt nicht – wie schon bei der Rente – scheuen.

Es ist Zeit für Ehrlichkeit: Das deutsche Gesundheitssystem ist teuer, ineffizient und nicht zukunftsfähig. Was es braucht, ist Mut zur echten Reform – und die Bereitschaft, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Gesundbeten hilft schließlich nicht.

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Erstpublikation: 01.06.2025, 09:54 Uhr.

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