Grönemeyers Sprechstunde: Gesunder Rücken – So gelingt es auch bei Büromenschen

Wie die Takelage den Mast eines Segelschiffs so umspannt ein Geflecht aus stabilisierenden Bändern, Sehnen und Muskeln das Rückgrat und hält es im Lot. Schlagen die Wellen des Alltags allerdings zu hoch, nehmen die Wirbelsäule und ihre umgebenden Strukturen Schaden. Das sensible Konstrukt, das uns aufrecht stehen, gehen, tanzen lässt und den Kopf gegen Stöße abfedert, zeigt dann seine Schwachstellen. So haben laut Umfragen knapp 80 Prozent der Erwachsenen Probleme mit dem Kreuz, jeder fünfte Befragte sogar mehrfach pro Woche.
Wir sitzen unseren Rücken krank! Beim Frühstück, im Auto, im Bus – Kinder bereits in der Schule oder vor dem Fernseher oder Computer – und in Schildkrötenhaltung im Büro vor dem Rechner: mit vorgestrecktem Hals und gesenktem Kopf. Die Muskeln, die das Rückgrat stützen sollten, verkümmern, die Bandscheiben trocknen aus und schrumpfen. Die Faszien, die die Muskeln zusammenhalten, werden starr, die Gelenkknorpel verkalken. Dazu kommen noch Verschleiß, Stress, einseitige Belastung.
Um den Rücken mit all seinen Strukturen aufrechtzuerhalten, müssen wir uns mehr bewegen. Gezielt, wohldosiert, kontinuierlich! Und zwar in jedem Alter – von klein auf. Dranbleiben ist der einzige Weg. Wer glaubt, auf Sport verzichten zu können, weil er schon körperlich hart arbeitet, irrt: Meistens werden die Muskeln einseitig gefordert. Eine einzige kleine falsche Bewegung kann dann genügen, und die Muskulatur verspannt und verhärtet sich. Wichtig ist etwa, nicht nur die Rücken- und die Gesäßmuskulatur zu stärken, sondern auch die Bauchmuskeln, die das ganze Konstrukt quasi von der Gegenseite stützen.
Bei rund 85 Prozent der Rückenschmerzen können Ärzte keine eindeutige Diagnose stellen, das weiß ich aus meiner eigenen Praxis. Denn circa 80 Prozent sind Muskelverspannungen. Klar erkennbare Auslöser sind etwa starker Verschleiß der Wirbelsäule, ein Bandscheibenvorfall, eine Skoliose, Entzündungen oder Knochenerkrankungen wie Osteoporose, Tumore oder Verletzungen.
Dann kann eine Operation helfen, aber auch das ist keineswegs sicher. Doch meist gibt es keine eindeutige Erklärung, die Ursache lässt sich dann auch nicht mit den radiologischen bildgebenden Verfahren identifizieren, und eine Operation ist oft der falsche Weg. Tatsächlich wird in Deutschland am Rücken mehr gefräst, verschraubt und abgeschliffen als in jedem anderen europäischen Land.
Wann eine OP überflüssig ist
Unter Experten ist es unumstritten, dass acht von zehn Rücken-OPs unnötig sind. Heißt: Der Schmerz könnte auch ohne Skalpell besiegt werden. Die konservative Therapie dauert bisweilen etwas länger, ist aber langfristig meist erfolgreich. Eine Operation sollte deshalb immer nur das letzte Mittel sein, wenn zum Beispiel Lähmungen auftreten, man seinen Fuß nicht mehr allein hochheben oder senken oder nicht mehr auf einem Bein stehen kann. Dann muss schnell gehandelt werden. Wird die Zeitgrenze von 24 Stunden überschritten, kann es sein, dass die Lähmung bleibt, da der Nerv irreparabel geschädigt ist.
Am besten hilft gegen Rückenschmerzen Prävention. Vor allem bei Büroarbeitern. Sie können sich schon mit einigen kleineren Anpassungen im Alltag helfen: Schaffen Sie sich zusätzliche Wege, indem sie zum Beispiel den Drucker weiter weg platzieren, nutzen Sie Treppe statt Aufzug und legen Sie alle 40 bis 60 Minuten eine Bewegungspause ein. Und beachten Sie die Ergonomieformel: Verbringen Sie 50 Prozent Ihrer Arbeitszeit im Sitzen und je 25 Prozent stehend und in Bewegung.
Der Rücken ist Kopfsache
Vor allem aber ist der Rücken mehr als nur ein Körperteil. Er ist ein fühlendes Organ, trägt viele Lasten, tatsächliche und oft auch psychische. Stress, dauernde Anspannung und nicht ausgeruht sein durch zu kurzen und unruhigen Schlaf – das wirkt sich auf Wohlbefinden und Kreuz aus. Rückenschmerzen sind eine Frage der inneren Haltung. Angst, Frustration oder Wut setzen die Psyche unter Druck und machen sich in einer körperlichen Reaktion bemerkbar. Wenn wir uns nicht wohl oder bedroht fühlen, wollen wir instinktiv aufspringen, wegrennen oder uns verteidigen.


Das tun wir aber nicht, sondern wir bleiben verkrampft sitzen. So äußern sich depressive Stimmungslagen nicht selten in Rückenschmerzen oder in einem akuten Hexenschuss. Übergroßer Druck sorgt dafür, dass aus Anspannung mit der Zeit Verspannung wird. Und chronische Verspannung kann Folgen wie Bandscheibenvorfälle oder Gelenkverschleiß haben. Die beste Therapie bei Rückenschmerzen ist langfristig die Kombination aus – Achtung, Männer! – gezielter Entspannung und regelmäßiger, moderater Bewegung, Dehnungen und Massagen. Unser Rücken braucht einfach mehr Achtsamkeit und Fürsorge.
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