Essay: Welt ohne Kompass – das Ringen um eine neue Weltordnung

Die Menschen in Minnesota gelten nicht als politische Hitzköpfe. Im Gegenteil: Die Einwohner des US-Bundesstaates im Mittleren Westen leben fernab von der politischen Arena in Washington und sind in Amerika als „Minnesota Nice“ – also als überaus freundlich, unaufgeregt und bodenständig bekannt.
Umso überraschender war es, als im Frühjahr fünf republikanische Abgeordnete des dortigen Regionalparlaments einen Gesetzesentwurf einbrachten, der das „Trump Derangement Syndrome“ – kurz TDS genannt – offiziell als psychische Erkrankung im Bundesstaat festschreiben sollte. Demnach handelt es sich bei TDS um „das akute Auftreten von Paranoia bei ansonsten normalen Menschen als Reaktion auf die Politik und Präsidentschaft von Präsident Donald J. Trump“.
Der ungewöhnliche Gesetzentwurf ist in Minnesota zwar im parlamentarischen Prozess stecken geblieben. Inzwischen scheint jedoch die ganze Welt am „Trump Derangement Syndrome“ zu leiden – wobei „Derangement“ als totale Verwirrung gemeint ist.
Paradigmenwechsel ohne Richtung
Dass „die Welt aus den Fugen geraten ist“ hat der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier angesichts der Auflösungserscheinungen alter Ordnungen zwar bereits vor Trump konstatiert. Seit der US-Präsident vor sechs Monaten jedoch seine zweite Amtszeit begonnen hat, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Tabus gebrochen, Konventionen missachtet und Weltbilder zerstört werden.
Epochale Umbrüche mit dem dazugehörigen Chaos und Widersprüchen hat es zwar auch früher schon gegeben. Solche Paradigmenwechsel zeichnen sich jedoch meist dadurch aus, dass die neue Ordnung schon wächst und erkennbar wird, während die alte noch vergeht. Im Moment fehlt uns jedoch ein solcher Fingerzeig. Liberale, Libertäre, Linke, Konservative und Rechtspopulisten ringen um die Deutungshoheit des Wandels, ohne dass daraus ein kohärentes Weltbild entsteht. Wir leben in einer Welt ohne Kompass.