Kommentar: Brüssels „Ausnahmeregel“ ist in Wahrheit längst eine Lizenz zum Schuldenmachen

Zum vierten Mal in Folge setzt die EU-Kommission die Schuldenregeln erneut für ein Jahr aus.
Die europäische Stabilitätskultur ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Vor fast dreißig Jahren verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zum Maastricht-Vertrag. Der damalige Kanzler Helmut Kohl und sein Finanzminister Theo Waigel versprachen den Bürgerinnen und Bürgern seinerzeit gebetsmühlenartig, niemand müsse um sein Geld fürchten. Die Schuldenregeln würden penibel eingehalten.
Die Skepsis war damals schon groß, heute klingen diese Worte wie Hohn.
Die deutschen Steuerzahler können sich davon nichts mehr kaufen. Sie müssen heute in ihrem Alltag mit einer Inflation in Höhe von derzeit 7,4 Prozent zurechtkommen. Außerdem steigt die Staatsverschuldung der südeuropäischen Länder, inzwischen fast unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, in schwindelerregende Höhen.
Die Reaktion der EU-Kommission? Sie setzt die Schuldenregeln erneut für ein Jahr aus. Zum vierten Mal in Folge.
Die Maastricht-Kriterien, die die zulässige Staatsverschuldung auf 60 Prozent und das Haushaltsdefizit auf drei Prozent der nationalen Wirtschaftskraft begrenzen, werden schon seit 2020 nicht mehr angewandt. Jetzt sollen sie erst wieder 2024 greifen.
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Brüssel spricht von einer „Ausnahmeregel“. In Wahrheit ist es längst eine Lizenz zum Schuldenmachen. Denn nicht nur in der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich die Gewichte verschoben. Auch unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es kaum noch Länder, die auf die Regeln pochen – auch Deutschland nicht mehr.
Kanzler Olaf Scholz will zwar keine Schuldenunion, doch bei der anstehenden Reform des Stabilitätspakts möchte er flexibel sein. Lediglich Bundesfinanzminister Christian Lindner wehrt sich tapfer – fragt sich nur, wie lange noch. Das neue Führungsduo in Europa bilden der italienische Ministerpräsident Mario Draghi und der wiedergewählte französische Präsident Emmanuel Macron. Die beiden wissen, was sie wollen.
Der Gewöhnungseffekt durch die jahrelange Aussetzung der Schuldenregeln dürfte vor allem für die Südländer seine Wirkung nicht verfehlen. Das süße Gift der Verschuldung wird weiter seine Wirkung entfalten.
Die Reformempfehlungen der EU-Kommission für die Schuldenländer sind wertlos. In Italien und Griechenland liegt die Schuldenquote inzwischen bei fast 150 beziehungsweise 200 Prozent. Deutschland rühmt sich zwar einer wesentlich geringeren Verschuldung. Doch bei einem Blick in das verschachtelte Finanzkonstrukt der sogenannten Sondervermögen kann einem ganz schnell schwindlig werden.
Auf Pump lebt es sich sorgenfrei – aber nicht mehr lang
Dabei müssten in Zeiten steigender Zinsen bei allen Verantwortlichen die Alarmsirenen schrillen. Bei den Ideologen der Modern Monetary Theory galt bis vor Kurzem noch die Devise: Auf Pump lebt es sich sorgenfrei. Doch diese Zeiten sind bald vorbei, die Zinswende an den Kapitalmärkten findet längst statt.
Jetzt heißt es also umzusteuern: weg von durchaus berechtigten Rettungspaketen während der Pandemie und für die Ukraineflüchtlinge, hin zu einer Wachstumspolitik, mit denen die Euro-Länder und auch Deutschland aus ihren Schulden herauswachsen können.






Die Länder sollten weniger Geld für staatlich subventionierte Nachfragepolitik ausgeben, um die Inflation nicht noch weiter anzuheizen. Kommt nämlich zur Geldentwertung auch noch ein starker Einbruch des Wirtschaftswachstums hinzu, bekommen wir eine Stagflation. Davor fürchten sich zu Recht nicht nur die Ökonomen.
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