Kommentar: Das Faszinosum Milei – wieso der Präsident so populär ist
Javier Milei nimmt sich Zeit für den Kanzler. Olaf Scholz darf sich geehrt fühlen, denn das ist keine Selbstverständlichkeit. Normalerweise zieht Argentiniens Präsident es vor, mehr oder weniger privat in andere Länder zu reisen. Bei seinem ersten Besuch in Spanien etwa mied Milei sowohl den König als auch den sozialistischen Premier.
Er zog es vor, sich von der rechtsradikalen Partei Vox feiern zu lassen – und über die Frau von Regierungschef Pedro Sánchez zu lästern. Das gleiche Bild in den USA, wo er sich bei Donald Trump anbiederte („Es ist mir eine Ehre, Sie sind der Größte für mich“) – und über Präsident Joe Biden in unmanierlicher Weise herzog.
Von diplomatischen Gepflogenheiten hält Milei nicht viel. Man kann es auch so ausdrücken: Der Präsident, der seit gut einem halben Jahr im Amt ist, hat bei seinen bisherigen Auslandsbesuchen eine Spur der diplomatischen Verwüstung hinterlassen.
Nun also Deutschland – und es gibt kaum Zweifel daran, dass Milei die Veranstaltung rund um die Verleihung der Hayek-Medaille, die ihm die gleichnamige Gesellschaft am Samstag verliehen hatte, wichtiger war als das Treffen mit dem Kanzler am Sonntag. Scholz ist wie sein spanischer Amtskollege Pedro Sánchez Sozialdemokrat, was aus Sicht des argentinischen Ökonomen in die verachtete Kategorie „Sozialismus“ fällt.
Aus gutem Grund ein Arbeits-, kein Staatsbesuch
So gab es in Berlin keinen gemeinsamen Auftritt, keine Pressekonferenz, ein schneller Arbeitsbesuch halt. Was zumindest aus Sicht des Kanzlers das bessere beziehungsweise sicherere Format war. Denn Milei neigt zu kommunikativen Eskapaden, und Scholz steht nicht im Ruf, die notwendige rhetorische Agilität zu besitzen, um auf Unvorhergesehenes zu reagieren.
Aber auch das Unkalkulierbare, Unorthodoxe und Getösehafte, das Milei ausmacht, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Er ist der neue Politstar, ein Faszinosum – nicht trotz, sondern wegen seiner Radikalität.
Milei ist die Projektionsfläche für die liberale Glaubensgemeinschaft, sein chronisches Krisenland Argentinien ihr neuer Sehnsuchtsort. Das hat nicht in erster Linie mit dem exzentrischen Charakter Mileis zu tun, sondern vor allem auch mit der Tatsache, dass das Vertrauen in die Marktwirtschaft in den vergangenen Jahren erodiert und dass an ihrer Stelle ein bedenkliches Maß an Staatsgläubigkeit getreten ist.
Sie manifestiert sich in hohen Staatsquoten, ausufernder Staatsverschuldung und zunehmendem Protektionismus, der sich neuerdings Industriepolitik nennt.
Wirtschaftselend schafft Basis für Schocktherapie
Der Staat ist wieder das Maß aller Dinge, und Zweifler an dieser Entwicklung wie die Hayek-Gesellschaft sehen in Milei einen Mentor, der bereit ist, ihre liberalen, teils libertären Ideen in einem gewagten Großexperiment umzusetzen.
Tatsächlich ist es das seit Jahrzehnten andauernde Wirtschaftselend Argentiniens, das die Bereitschaft zu einem solchen Experiment in der Gesellschaft fördert, auch wenn es in seiner Dimension einzigartig ist.
Der selbst ernannte „Anarchokapitalist“ strich die Sozialausgaben zusammen. Aus 18 Ministerien machte er acht, schloss 54 von 106 Behörden. Die Konjunktur brach – durchaus erwartet und gewollt – kräftig ein.
Nach seinem Amtsantritt im vergangenen Dezember ließ er eine Abwertung des Pesos um mehr als 50 Prozent gegenüber dem Dollar zu, was die Importpreise und die Inflation, die im vergangenen Jahr mehr als 200 Prozent betragen hatte, noch antrieb.
Doch Mileis Schocktherapie zeigte auch positive Wirkung. Die Inflation geht inzwischen zurück, der Anstieg betrug zwischen April und Mai nur noch knapp vier Prozent. Das chronisch überschuldete Land, das seine Schulden stets mit der Notenpresse bediente und häufig am Rande der Zahlungsunfähigkeit wirtschaftete, erzielte erstmals Haushaltsüberschüsse.
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Wie aus dem Lehrbuch der neoliberalen Chicagoer Schule agiert Milei, der einen seiner Hunde nach dem Gründer der Chicagoer Schule, Milton Friedman, benannte. Und er ist überzeugt, dass er mit seiner Marktradikalität die Voraussetzung für einen baldigen und nachhaltigen Aufschwung schafft.
Das Erstaunliche: Trotz der unvergleichlichen Einschnitte bleibt der Präsident populär. Er wird getragen von der Hoffnung der Verzweifelten, die nicht mehr an die bisherigen Rezepte glauben.
Internationale Milei-Fangemeinde
Auch außerhalb des Landes löst Mileis Unerschrockenheit teilweise Begeisterung aus. Zu seiner Fangemeinde gehört fast die gesamte US-Tech-Elite: Elon Musk, OpenAI-Chef Sam Altman, Google-Chef Sundar Pichai oder sein Kollege von Apple, Tim Cook. Und selbst der Internationale Währungsfonds, der seiner neoliberalen Ideologie im Rahmen des neuen Washington Consensus längst abgeschworen hatte, wirkt wie elektrisiert.
Freilich scharen sich auch viele rechtsradikale Gruppen und Parteien wie Vox oder die AfD, die sich darüber beklagte, dass der Kanzler Milei militärische Ehren verweigerte, um ihn. Obwohl ihn deren Themen wie nationale Identität und die Angst vor Überfremdung nicht interessieren. Applaus von der falschen Seite ist nicht dem argentinischen Präsidenten anzulasten. Und doch zeigt er, wie schwer das Faszinosum Milei einzuschätzen ist.
Einerseits leitet Milei seinen Legitimitätsanspruch nicht wie für Populisten üblich aus der Nähe zum Volk, sondern aus der Wissenschaft beziehungsweise der Ökonomie ab. Andererseits leugnet er den wissenschaftlichen Konsens, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Und auch die Tatsache, dass Milei nicht nur die ökologische Bewegung insgesamt, sondern auch den Feminismus unter der Kategorie „übergriffiger Staat“ subsumiert, irritiert.
Ausgang des Experiments völlig ungewiss
Ob der radikale Reformkurs in Argentinien im Namen der Freiheit am Ende gelingt, ist alles andere als ausgemacht. Dass ein gewisser sozialer Zusammenhalt nicht nur ein Wert an sich, sondern auch Voraussetzung für langfristigen ökonomischen Erfolg ist, zeigten die misslungenen, von Friedman konzipierten Reformexperimente der 70er-Jahre in Chile, in den 90er-Jahren unter Alberto Fujimori in Peru oder auch die neoliberalen Ansätze zur selben Zeit in Argentinien selbst. Auf sie hat der Kanzler am Sonntag hingewiesen.
Immerhin, ein verbindendes Element gibt es: Auch Milei ist Freihändler, und er setzt sich wie der Kanzler für einen Abschluss des Mercosur-Abkommens ein. Wären da nur nicht die Dissonanzen zwischen ihm und seinem brasilianischen Amtskollegen Lula, den er für einen verkappten Kommunisten hält.