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Kommentar Der Messias Mario Draghi

Die riesigen Erwartungen an den italienischen Premier stehen im Kontrast zu den beschränkten Möglichkeiten. Europa kann nur hoffen, dass er Erfolg hat. 
14.02.2021 - 18:35 Uhr Kommentieren
Europa hofft auf den Erfolg des ehemaligen EZB-Präsidenten. Quelle: Burkhard Mohr
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Europa hofft auf den Erfolg des ehemaligen EZB-Präsidenten.

(Foto: Burkhard Mohr)

Es ist ein paar Monate her, da ahnte Mario Draghi wohl schon, dass er italienischer Premier werden könnte. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank sagte bei einer Konferenz: „Viele Wirtschaftsregeln sind außer Kraft gesetzt, um pragmatischer auf die Pandemie zu reagieren.“ Und dann zitierte er den Ökonomen John Maynard Keynes: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung.“

Was genau wollte Draghi damit sagen? Meinte er, dass Schulden in diesen Zeiten keine Rolle spielen sollten? Dass Ausnahme-Zeiten auch Ausnahme-Maßnahmen rechtfertigen, sogar zwingend erforderlich sind? 

Um die Bedeutung der Machtübernahme Draghis in Rom zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf seine EZB-Präsidentschaft. Pragmatisch und zupackend war der 73-Jährige schon dort. Er kannte wenige Tabus und schreckte nicht davor zurück, geltende Regeln recht freihändig auszulegen. Ja, Draghi war wohl der wirkmächtigste Notenbanker der EZB-Geschichte. Er sah sich zu unorthodoxen Handlungen gezwungen, obwohl er wusste, dass diese die Notenbank überfrachten und das Mandat der EZB derart strapazieren würden, dass am Ende Verfassungsrichter über die Grenzen der Geldpolitik entscheiden mussten.

„Whatever it takes“ – mit diesem Satz, der ebenso umstritten wie legendär ist, hat der Italiener den wichtigsten Beitrag zur Rettung der Währungsunion geleistet. Draghi mahnte Rom stets, Strukturreformen anzugehen und sich nicht darauf zu verlassen, dass die EZB die Lage entschärfen würde oder könnte – einmal sogar per Brief an den damaligen Premier Silvio Berlusconi. Draghi, der immer unter Verdacht stand, mit seiner Geldpolitik auch sein Heimatland retten zu wollen, wurde vor allem in Deutschland angefeindet. Er selbst sah sich – sicherlich nicht zu Unrecht – als Lückenbüßer für eine europäische Politik, die nicht in der Lage war, die Währungsunion zusammenzuhalten.

Nun hat der 73-Jährige die Rolle getauscht und kann oder muss sogar beweisen, dass er in der Lage ist, das durchzusetzen, was er damals von Berlusconi und den vielen Nachfolgern stets forderte: eine Stabilisierung der drittgrößten Volkswirtschaft, die seit fast zwei Jahrzehnten am Rand des Abgrunds balanciert. 

Es ist ohne Zweifel ein großes Experiment. Draghi hat nie einen Wahlkampf geführt, nie ein wichtiges politisches Amt innegehabt – und übernimmt jetzt eines der schwierigsten, die Europa zu vergeben hat.

Mario Draghi steht mit seiner Experten-Regierung vor zahlreichen Herausforderungen. Quelle: dpa
Regierung in Italien - Erste Sitzung des Ministerrats

Mario Draghi steht mit seiner Experten-Regierung vor zahlreichen Herausforderungen.

(Foto: dpa)

67 Regierungen hat das Land in den vergangenen 75 Jahren seit Kriegsende gesehen, nirgendwo in der Europäischen Union ist das Misstrauen gegenüber den politischen Eliten größer als in Italien. Und die ökonomische Lage ist spätestens seit Ausbruch der Pandemie, die nirgendwo so wütete wie in Italien, zunehmend prekär. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist niedriger als noch vor 20 Jahren. Die Industrieproduktion befindet sich 19 Prozent unter dem Wert vor Einführung des Euros.

Die Wirtschaft wuchs über Jahre wenn überhaupt in homöopathischen Dosen. Das Einzige, was mit zuverlässiger Präzision immer wuchs, war die Staatsverschuldung. Auf 2,7 Billionen Euro summiert sie sich mittlerweile. Das sind 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur Griechenland weist in Europa einen höheren Wert auf. Doch während Athen für 2,8 Prozent der Gesamtverschuldung der EU-Staaten steht, liegt der Wert für Italien bei sage und schreibe 21 Prozent.

Nun also eine Regierung der „nationalen Einheit“, eine Regierung der Technokraten, mit einer erstaunlich breiten Unterstützung im Parlament: Das ist erst mal eine gute Nachricht. Italien war schließlich das Land, das mit Berlusconi das Phänomen des Trumpismus vorwegnahm. Das heißt, eine grenzenlose Trivialisierung der Politik und vor allem die Unfähigkeit, sich den komplexen politischen und ökonomischen Problemen eines Landes zu widmen. 

Niemand bezweifelt, dass es Draghi um die Sache geht, dass er mit all seiner Kraft versuchen wird, die tiefen Probleme des Landes zu überwinden. Da sind die hohen Steuern, die vor allem den ebenso aufgeblasenen wie ineffizienten Staatsapparat finanzieren, anstatt langfristige Investitionen in die teils marode Infrastruktur auf den Weg zu bringen.

Da sind die schwachen Banken, die inzwischen 690 Milliarden Euro an italienischen Staatsanleihen halten, also mehr noch als die EZB (415 Milliarden). Die fatale Abwärtsspirale zwischen hoher Staatsverschuldung und Bankenkrise – in Italien ist das Risiko auch 13 Jahre nach der Finanzkrise nach wie vor virulent. Da ist der verkrustete Arbeitsmarkt, der bestehende, oft wenig produktivitätsfördernde Jobs über die Maßen schützt, die die Entstehung neuer zukunftsträchtiger aber verhindert, eine Arbeitsmarktpolitik also, die die junge Generationen ihrer Perspektiven beraubt. 

Und das größte Problem ist sicherlich die Staatsverschuldung. Draghi wird sich nicht der Illusion hingeben, dass die EZB die italienischen Verbindlichkeiten in ihren Büchern streicht. Ein gutes Zeichen ist, dass Draghi Daniele Franco zum Finanzminister machte, der als strenger Haushälter gilt.

Mit einer geschickten Budget- und vor allem einer effizienten Wachstumspolitik ist die neue Technokraten-Regierung zumindest nicht chancenlos, dieses Problem anzugehen, zumal Draghi – anders als die etwas glücklosen „Professoren-Regierungen“ unter Carlo Azeglio Ciampi und Mario Monti – einen klaren Startvorteil hat. Mehr als 80 Milliarden Euro der insgesamt 209 Milliarden Euro, die Italien aus dem Wiederaufbaufonds der EU bekommt, sind Zuschüsse.

So weltfremd es auf den ersten Blick erscheinen mag, einen Mann an die Regierungsspitze zu setzen, der immer Karrierebeamter war und noch nie eine Wahlkampfrede gehalten hat – wahrscheinlich kann nur wissenschaftsdominierte Politik die italienische Misere beenden. Eine Regierung der ökonomischen Vernunft in Rom – das ist vielleicht eine letzte Chance, nicht nur für Italien, sondern auch für Europa.

Mehr: Italiens neuer Finanzminister hat schon den Populisten das Sparen verordnet

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