Kommentar: Fed-Chef Powell lässt sich nicht in die Karten schauen
Im vergangenen November machte Jerome Powell einen entscheidenden Fehler: Der Chef der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) deutete damals an, dass die Geldpolitiker nach den vielen und schnellen Zinserhöhungen nun über eine Kehrtwende nachdenken.
Damit löste er eine neue Welle der Euphorie an den Aktienmärkten aus. Der breit gefasste S&P 500 gewann seitdem gut elf Billionen Dollar an Marktkapitalisierung, wie aus Daten der Analysefirma Kobeissi hervorgeht.
Das sind gute Nachrichten für Anleger, doch schlechte Nachrichten für die Fed. Schließlich lockert Powells Andeutung die Finanzbedingungen: Verbraucher fühlen sich reicher und geben mehr Geld aus. Die gute Stimmung an den Aktienmärkten stützt Unternehmen, Geld und Kredite fließen leichter durch die Wirtschaft. Das alles treibt die Inflation an, die Powell und Co. ja eigentlich bekämpfen wollen.
Torsten Slok, Chefökonom des Private-Equity-Investors Apollo, spricht vom „Fed Cut Reflexivity Paradox“. Es besagt: „Je mehr die Fed darauf besteht, dass der nächste Schritt bei den Zinssätzen eine Senkung ist, desto mehr werden sich die finanziellen Bedingungen entspannen, was es für die Fed schwieriger macht, die Zinssätze zu senken“, erklärte Slok jüngst in einer Analyse.
Bei der Fed-Sitzung am Mittwoch war die mächtigste Notenbank der Welt darauf bedacht, diesen Fehler nicht noch einmal zu wiederholen. Powell ließ sich nicht in die Karten schauen. Nur so viel ist klar: Die Geldpolitiker rechnen nur mit einer Zinssenkung in diesem Jahr, wie aus ihren ökonomischen Projektionen hervorgeht, die am Mittwoch ebenfalls veröffentlicht wurden. Im März waren sie noch von drei Zinsschritten ausgegangen.
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Auch die überraschend guten Inflationsdaten vom Mai, die kurz vor der Fed-Sitzung bekannt gegeben wurden, ließen Powell nicht von seinem Kurs abbringen. Nicht noch einmal sollen ihm überaus optimistische Anleger die Arbeit erschweren. Er ließ offen, wann die Fed mit den Zinserhöhungen beginnen will. Doch allzu eilig habe er es nicht: Ein guter Datenpunkt ist zwar „sehr willkommen“, wie Powell versicherte. Doch die Notenbanker müssten mehr davon sehen, bevor sie sich zum Handeln entschließen.
Kaufen Anleger ihm das Vorgehen ab?
Im Prinzip ist Powells Pokerface die richtige Strategie. Damit bewahrt er sich schließlich die größtmögliche Flexibilität. Sollte sich die Inflation in den kommenden Monaten weiter abschwächen, können die Notenbanker die Zahl der geplanten Zinssenkungen immer noch nach oben revidieren. Das könnte in Zeiten turbulenter Märkte als zusätzlicher Booster für die Laune der Anleger wirken. Dann wäre der Effekt jedoch bewusst gewollt und nicht – wie im November – aus Versehen provoziert.
Die einzige Frage ist, ob die Anleger Powells vorsichtiges Vorgehen abkaufen. Am Mittwoch ließen sie sich von den neuen Zinssorgen nicht abschrecken. Der S&P 500 schloss zum ersten Mal über der Marke von 5400 Punkten. Auch der technologielastige Nasdaq, der von Zinssenkungen am meisten profitieren würde, beendete den Handelstag auf einem neuen Rekordniveau.
Der S&P 500 liegt damit gut 20 Prozent über dem Niveau vom März 2022, als die Fed mit den Zinserhöhungen begann. Sollte es Powell nicht gelingen, die gute Stimmung an den Märkten und damit auch die Inflation zu dämpfen, müsste er Zinserhöhungen wieder ins Spiel bringen.