Kommentar: Frankreich und Deutschland bleiben eine gemeinsame Corona-Strategie schuldig
Deutsche Ärzte versorgen einen französischen Patienten.
Foto: dpaFrankreich und Deutschland verstehen sich als Motor und Garant der EU und der Euro-Zone. Doch ihre Zusammenarbeit in der Coronakrise wird diesem Anspruch nicht gerecht. Sowohl im Hinblick auf die Epidemie als auch auf deren wirtschaftliche Folgen bleiben sie eine gemeinsame Antwort auf die Krise schuldig.
Beide Staaten haben ein rein nationales Paket für die Rettung der eigenen Wirtschaft beschlossen. Anschließend wurde gefährliche Symbolpolitik betrieben, wie das Schließen der Grenzen, das die Lieferketten zusätzlich behinderte. In mancher Hinsicht läuft es derzeit schlimmer als während der Euro-Krise: Frankreich reißt sich Schutzmasken unter den Nagel, die Schweden zustehen. Der saarländische Innenminister verrammelt die Grenzen nach Westen, als stünde dort wieder der Erbfeind. In der Landeshauptstadt werden Franzosen die Autos zerkratzt und der Einkauf verweigert. Man könnte vor Scham im Boden versinken, doch die verantwortlichen Politiker scheint das kaltzulassen.
2010 suchten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gemeinsam im Europäischen Rat und am Strand von Deauville Lösungen, die weit über die bestehenden Regeln und Instrumente hinausgingen. Heute ist die Krise umfassender, trifft sie jedes Land. Die Euro-Krise ließ die Risikoprämien in die Höhe schnellen, Covid-19 die Zahl der Toten. Doch Frankreich und Deutschland reagieren so, als müssten sie lediglich den laufenden Gang der Geschäfte regeln.
„In Italien und Spanien sterben jeden Tag Hunderte Menschen, während man im Berliner Kanzleramt an die Bankkonten der Deutschen denkt“, schreibt bitter der italienische Journalist Roberto Brunelli. Die Todeszahlen im Süden sind auch deshalb höher, weil nach der Euro-Krise der Gesundheitssektor geschrumpft wurde. Deutschland und Frankreich haben diese Politik damals gemeinsam betrieben, umso größer ist heute ihre Verantwortung, es besser zu machen.
Sicher, der französische Finanzminister Bruno Le Maire und sein deutscher Kollege Olaf Scholz reden häufig miteinander, ihre engsten Mitarbeiter praktisch täglich. Doch diese Zusammenarbeit ist ohne Ambitionen. Das Höchste der Gefühle: Anfang der Woche werden möglicherweise Kredite des europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ohne die üblichen Auflagen für Strukturreformen vereinbart.
Wirtschaftskrise gemeinsam durchstehen
Überzeugende Gründe für diese Kleinmütigkeit gibt es nicht mehr. In Deutschland haben sich die gesellschaftlichen Mehrheiten verändert. Die Deutschen wissen, dass sie nicht auf einer Insel leben. Für Ärzte, Unternehmer und Ökonomen ist Europa die zweite Haut geworden. Die Epidemie und die folgende Wirtschaftskrise wollen wir mit unseren europäischen Nachbarn gemeinsam durchstehen. Deutsche Ärzte kämpfen um das Leben französischer Patienten mit derselben Hingabe wie um das von Deutschen. Unternehmen wollen die Kooperation verstärken, verstehen, dass Hilfe für die Nachbarn auch im besten eigenen Interesse liegt, weil wir sonst keinen Aufschwung haben werden.
Während der Euro-Krise fürchteten viele Deutsche, sie müssten für den Schlendrian der Südländer haften. Heute muss man fürchten, dass Deutsche, Italiener, Franzosen und Spanier für den Schlendrian von Regierungen und eine müde EU-Kommission haften werden, die in nationalen Grenzen denken oder sich in juristischen Fingerübungen verlieren.
Das hat viel damit zu tun, dass die entscheidenden Gespräche von einem Dutzend Personen geführt werden, die sich seit Jahren in herzlicher Abneigung verbunden sind. Die Schuld ist gleichmäßig verteilt: Die deutsche Ministerialbürokratie wiederholt ihr Mantra „keine Vergemeinschaftung von Schulden“, obwohl wir die über ESM, Europäische Investitionsbank und EU längst haben. Dem französischen Finanzministerium und Schatzamt fällt nicht mehr ein, als auf das morsche Tabu der Europa-Bonds einzudreschen. Nicht einmal den gemeinsamen Rat der Wirtschaftsweisen haben die beiden Regierungen einberufen: Sie schlafwandeln.
Schnelle und pragmatische Ansätze dafür, wie Schutzkleidung, Tests, Beatmungsgeräte länderübergreifend hergestellt werden können, bleiben dabei auf der Strecke. Das gilt genauso für die Planung, wie man den Exit aus der Phase der Ausgangssperren und des künstlichen Komas der Wirtschaft findet und koordiniert. Und noch mehr für die Überlegungen, die jetzt schon angestellt werden müssten mit Blick auf die notwendige Veränderung der Lieferketten, für eine größere Autonomie Europas nicht nur bei medizinischem Gerät und Pharmazeutika, sondern bei allem, was für Europa lebenswichtig ist.
Die Bürger eilen im Moment der weitgehend national denkenden Politik voraus. Das ist beruhigend, was den Zustand der öffentlichen Meinung angeht. Doch es kann einen zur Verzweiflung treiben, weil dies nun einmal die Stunde der Exekutive ist und diese darüber entscheidet, was in Europa geschieht. Oder besser gesagt: nicht geschieht.