Kommentar: Konservative ohne Kompass


In Großbritannien und Deutschland tricksen beide Regierungen beim Haushalt.
Ob in der Opposition wie in Deutschland und Amerika oder (noch) in der Regierung wie in Großbritannien, die Konservativen suchen allerorten nach einer neuen Erfolgsformel. Wenn man sie nach ihren Leitfiguren fragt, folgt meist eine lange Denkpause und dann werden Namen wie Margaret Thatcher, Ronald Reagan oder Ludwig Erhard aus dem Gedächtnis gekramt. Deren Wirken liegt allerdings schon mehr als 30 Jahre zurück.
Nicht schlimm, sagt der CDU-Politiker Jens Spahn, die Bürger wollten ohnehin keine Ideologie mehr, sondern forderten „Problemlösungskompetenz“. Spahn hat sich vergangene Woche beim Parteitag der britischen Tories umgeschaut und war von dem hemdsärmeligen „Can do“-Regierungsstil des konservativen Premierminister Rishi Sunak beeindruckt. Ist der 43-jährige Brite also das neue Vorbild für die irrlichternde Union in Deutschland?
Wäre das nicht etwas für Friedrich Merz? So wie einst Helmut Schmidt alle „Visionäre“ zum Arzt schicken und das Land mit bürgerlicher Kompetenz führen?
Drei Gründe mahnen zur Vorsicht, allzu schnell dem britischen Vorbild nachzueifern. Erstens hat Olaf Scholz den Platz des pragmatischen Technokraten bereits ganz gut besetzt. Zweitens würde eine technokratische Union die politische Heimat rechts von der Mitte noch mehr als bisher der AfD überlassen. Und drittens muss Sunak erst noch beweisen, dass er mit seinem ideologiefreien Kessel Buntes die britischen Konservativen nach 13 Jahren an der Macht halten kann.
Sunaks Mix aus Kompetenz und Pragmatismus funktionierte nicht
Der britische Premier ist mit dem Ruf eines Technokraten vor einem Jahr gestartet und hat lange darauf gesetzt, dass ein Mix aus Sachkompetenz und Pragmatismus ausreicht, um die Briten zu überzeugen, den von Skandalen und Krisen ausgelaugten Tories bei den voraussichtlich im kommenden Jahr stattfindenden Wahlen nochmal eine Chance zu geben.
Da er damit den 20-Punkte-Umfragerückstand zur Labour-Partei bislang nicht nennenswert verkleinern konnte, hat er jetzt seine Politikformel ergänzt: „Wir werden mutig sein. Wir werden radikal sein. Wir werden auf Widerstand stoßen, und wir werden ihm begegnen“, rief er seinen Parteifreunden zu. Ähnlich markige Worte hatte man bei den Tories bis dahin nur von zwei Frauen gehört: von Sunaks Vorgängerin Liz Truss, die nach nur 45 Tagen von den Finanzmärkten aus 10 Downing Street gejagt wurde, und eben von Margaret Thatcher.
Anders als die „Eiserne Lady“ gründet Sunak seine Führungsstärke jedoch nicht auf tiefe Überzeugungen in ein konservatives Weltbild, sondern auf einen hemdsärmeligen „Ich weiß es besser“-Pragmatismus, der sich fast ideologiefrei dort bedient, wo es vermeintlich am meisten zu holen gibt. Berührungsängste nach rechts und links kennt er dabei kaum.
Mit seiner Klima- und Verkehrswende bedient er populistisch die Furcht vieler Bürger vor einer finanziellen Überforderung. Seine strikte Asylpolitik spielt mit der Angst vor Überfremdung. Mit dem Baustopp für die Hochgeschwindigkeitsbahn HS2 folgt er der ökonomischen Vernunft eines staatlichen Kassenwartes. Sein Rauchverbot erinnert dagegen an den „Nanny-Staat“ und die von ihm ausgebrütete Industriepolitik würde Thatcher noch im Grabe schwindelig machen.
Ein zweifelhafter Kessel Buntes
Dass dieser Kessel Buntes nicht allen Konservativen gefällt, konnte man auf dem Parteitag der Tories deutlich spüren. Tatsächlich musste Sunak mit seiner Kursbestimmung am Ende des Treffens auch jenen parteiinternen Aufstand geistig niederschlagen, mit dem vor allem Truss in den Tagen zuvor offenbar den Ton der Parteibasis getroffen hatte: Mehr Markt, weniger Staat und niedrigere Steuern lautete die nicht ganz neue Botschaft der ehemaligen Premierministerin und heutigen Rechtsaußen der Tories, die damit auch bei den amerikanischen Republikanern Furore macht.
Die Stimmung der meisten Briten trifft Truss damit jedoch nicht. Nach einer neuen Umfrage des National Centre for Social Research will die Mehrheit im Königreich einen starken Staat. Wie auch in anderen Ländern schauen die Wähler in Großbritannien nach den Worten des Meinungsforschers John Curtice, „auf die Regierung, um einen Ausweg aus den Krisen zu finden, die nach der Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine entstanden sind“.
Ein überzeugendes Erfolgsrezept für Deutschland können sich Merz & Co. also weder bei Sunak noch bei Truss abschauen. Entscheidend aber ist, dass der Rechtspopulismus in Großbritannien anders als in den meisten anderen europäischen Ländern eine Randerscheinung ist. Das liegt sicher auch daran, dass die Briten nach dem unsäglichen Brexit-Erlebnis erstmal die Nase voll haben von Rechtspopulisten. Auch deshalb hat der EU-Austritt beim Parteitag der Tories kaum noch eine Rolle gespielt.






Zwar gibt es auf der Insel auch Fremdenfeindlichkeit, Klimafrust und Kulturkampf, aber Wut und Enttäuschung über das politische Establishment haben die Briten nicht scharenweise in die Arme rechtsradikaler Verführer getrieben. Das Inselreich steht eher vor einem politischen Links- als Rechtsruck. In Deutschland ist die Gefahr dagegen viel größer, dass die AfD das von der Union eröffnete Identitätsvakuum ausfüllt und damit ihre fehlende „Problemlösungskompetenz“ verdeckt.





