IFAA-Studie Digitalisierung: Die Hoffnung auf einen Produktivitätsschub ist trügerisch

Datenbrillen werden erst in elf Prozent der Unternehmen genutzt, wie die IFAA-Auswertung ergab.
Berlin Schon vor Corona steckte die Industrie tief in der Rezession, die Pandemie verschärft den Einbruch. Durch eine beschleunigte Digitalisierung könnten der Abschwung gemildert und die seit Langem schwächelnde Produktivität erhöht werden, zeigt eine Studie des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft (IFAA), die dem Handelsblatt vorliegt. Doch das Potenzial ist längst nicht ausgereizt.
„Die Firmen haben sehr hohe Erwartungen an die Digitalisierung, aber weniger als die Hälfte nutzen sie bisher, um Geschäftsmodelle anzupassen oder neue zu entwickeln“, sagt Frank Lennings, einer der Autoren der Studie. Gerade bei kleineren und mittleren Unternehmen gebe es noch viel Luft nach oben.
Das IFAA hat zwischen Mai und August 2019 rund 180 Fach- und Führungskräfte aus allen Branchen, aber mit einem Fokus auf der Metall- und Elektroindustrie befragt. Dabei gaben nur 41 Prozent an, dass ihre letzte Digitalisierungsmaßnahme auf einer konkreten Unternehmensstrategie basierte. Bei gut einem Drittel diente sie dagegen zur Lösung eines konkreten Problems.
Hier wirkt die Corona-Pandemie wie ein Katalysator. Wegen der Kontaktbeschränkungen schickten Firmen ihre Mitarbeiter ins Homeoffice und schafften Software für virtuelle Konferenzen an. Wie eine Befragung des Ifo-Instituts unter knapp 800 Personalleitern zeigt, gaben 55 Prozent an, dass Corona den digitalen Wandel in ihrer Firma beschleunigt hat.
Produktivitätssprung bis 2022
Fast zwei Drittel der Unternehmen wollen auch nach der Pandemie häufiger virtuelle Meetings abhalten, 47 Prozent das Homeoffice-Angebot ausbauen, zeigt die Ifo-Studie im Auftrag des Personaldienstleisters Randstad.
Mit dem Einsatz digitaler Konferenztechnik kratzen die Firmen allerdings nur an der Oberfläche des technisch Möglichen. Datenbrillen werden erst in elf Prozent der Firmen genutzt, wie die IFAA-Auswertung ergab, Smartwatches in sieben Prozent.
Der Erfolg von Digitalisierungsstrategien hängt naturgemäß stark von der Datenverfügbarkeit ab. Rund jedes zweite befragte Unternehmen kann derzeit in Echtzeit auf produktivitätsrelevante Daten zugreifen und damit schneller und effektiver auf veränderte Situationen reagieren.
In der Metall- und Elektroindustrie liegt der Anteil mit fast 60 Prozent höher und ist zudem seit der letzten Befragung 2017 um rund sieben Prozentpunkte gestiegen. Entsprechend hoch sind auch die Fortschrittshoffnungen der vom IFAA befragten Fach- und Führungskräfte. Bis 2022 erwarten sie im Durchschnitt durch die Einführung digitaler Technologien einen Produktivitätssprung von 26 Prozent. Bis 2027 sollen es 37 Prozent sein – also etwa 4,6 Prozent pro Jahr.
Diese Einschätzung hält Studienautor Lennings für optimistisch: „Die hohen Werte erklären sich zum Teil sicher auch dadurch, dass die Befragten meinen, einer Erwartungshaltung gerecht werden zu müssen.“ Auch der Chef der Wirtschaftsweisen, Lars Feld, weist darauf hin, dass sich bisherige Produktivitätserwartungen nicht erfüllt hätten. „Wir haben ja in den vergangenen Jahren durchaus einiges an Digitalisierung in der Industrie erlebt.“
Anscheinend gelte aber immer noch das Produktivitätsparadoxon des US-Ökonomen Robert Solow. Der hatte schon 1987 festgestellt: „Sie können das Computerzeitalter überall sehen, außer in der Produktivitätsstatistik.“ Der Sachverständigenrat Wirtschaft hat in seinem letzten Jahresgutachten festgehalten, dass sich der Produktivitätszuwachs in den Industriestaaten in den zehn Jahren bis 2018 verlangsamte. In Deutschland ist die Arbeitsproduktivität im produzierenden Gewerbe 2019 im Vergleich zum Vorjahr sogar um 3,1 Prozent gesunken, im Dienstleistungsbereich nur um 0,7 Prozent gestiegen.
Gründe für die schwache Entwicklung könnten sein, dass es in Deutschland zu wenige neue Geschäftsideen gebe und neue Technologien zu langsam aufgegriffen würden, schriebt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten. Laut der IFAA-Studie kommen Anstöße zuweilen erst von außen. So haben bei einem knappen Drittel der befragten Unternehmen Kunden die weitere Zusammenarbeit von der Einführung digitaler Technologien abhängig gemacht. Eine schon ältere Studie der OECD legt aber auch nahe, dass die Effizienzgewinne durch die Digitalisierung sehr ungleich verteilt sein könnten.
Die Industrieländerorganisation hatte ermittelt, dass zwischen 2001 und 2013 die besten fünf Prozent der Serviceunternehmen ihre Produktivität um 44 Prozent steigerten, die übrigen 95 Prozent aber nur um sieben Prozent. Titel der Studie: „The best versus the rest.“ Die Produktivitätsgewinne landeten demnach vor allem bei US-Giganten wie Amazon oder Google.
Ernüchterung durch Homeoffice
Die Coronakrise habe Deutschland zwar einen Homeoffice-Boom beschert, auf anderen Feldern aber eher für Ernüchterung gesorgt, sagt der Freiburger Ökonom Feld. „Es gelingt bisher eher nicht, Maschinen fernzuwarten oder gar nach elektronischen Leitfäden im Ausland einzurichten.“
Das Geschäft funktioniere offenbar nur, wenn Mitarbeiter physisch vor Ort seien. Die Chance für größere Produktivitätsfortschritte sieht der Chef der Wirtschaftsweisen vor allem im Gesundheitswesen oder in der öffentlichen Verwaltung, wo es Nachholbedarf gebe. „Auch im Management und in Unternehmensverwaltungen kann die Digitalisierung eine große Rolle für mehr Effizienz spielen“, sagt Feld.
Diese Einschätzung wird auch vom IFAA bestätigt. Demnach ist die Bedeutung digitaler Technologien vor allem in den Bereichen Planung und Steuerung, Lieferkettenmanagement und Logistik hoch. Dass die Einführung digitaler Technologien Beschäftigte reihenweise arbeitslos werden lässt, erwarten die Arbeitswissenschaftler eher nicht – Bestsellern wie „The second machine age“ zum Trotz.
In den oberen und mittleren Entgeltgruppen sehen die Befragten mehrheitlich einen gleichbleibenden oder gar steigenden Mitarbeiterbedarf. Und auch bei Beschäftigten in den unteren Entgeltgruppen müsse es nicht zwangsläufig zu dem erwarteten Personalabbau kommen, „weil die Möglichkeit besteht, sie mit Assistenzsystemen vielseitig einzusetzen und das Lernen im Prozess der Arbeit zu unterstützen“, sagt Lennings. Soll heißen: Wenn die Arbeitsschritte über Datenbrillen eingespiegelt werden, können auch Angelernte eine Maschine warten.
Immerhin knapp ein Drittel der Unternehmen mit einer Digitalisierungsstrategie wollen gar nicht vorrangig den Output steigern oder Personal und Material einsparen, sondern ihre Produkte und Dienstleistungen stärker auf Kundenwünsche zuschneiden.
Mehr: Tijen Onaran – Die Coronakrise bietet Unternehmen die Chance, sich endlich zu digitalisieren
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