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Naina und die BildungsdebatteNaina hat recht, Gedichte machen nicht satt

Mit einem Tweet hat Schülerin Naina eine Debatte über das Bildungssystem losgetreten. Sylke Remmel-Heintzsch, die Hauptschüler für die Zukunft fit macht, beschreibt, warum viele tatsächlich keine Ahnung vom Leben haben. 21.01.2015 - 12:10 Uhr Artikel anhören

Mit diesem Tweet hat eine Schülerin aus Köln eine deutschlandweite Bildungsdebatte losgetreten.

Foto: Handelsblatt

„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.“ Mit diesem Tweet hat eine Schülerin aus Köln für mächtig Wirbel gesorgt.

In seinem Morning Briefing erwiderte Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart: „Steueroptimierer und Versicherungsvertreter treten noch früh genug in Dein Leben. Sei froh, dass Deine Lehrer sie Dir vom Leib halten. Erich Kästner, Kurt Tucholsky und Sarah Kirsch, um einige zu nennen, haben Dir mit ihrer Dichtung wahrscheinlich mehr zu bieten. Sie bereichern durch Klang und Klugheit, ohne dass Du dafür Steuern zahlen musst. In ihren Gedankengebäuden lässt sich sogar mietfrei wohnen. Leben ist nur ein anderes Wort für unfertig sein. So gesehen, liebe Naina, bist Du bereits mittendrin.“

Bildung der Zukunft

Was unsere Kinder lernen sollen

Nun, ich fürchte, hier muss ich widersprechen:

Wenn die Schüler und Schülerinnen weiterhin völlig unvorbereitet auf das wirkliche Leben und auf die Welt losgelassen werden, ohne auch nur den Schimmer einer Ahnung davon, was sie brauchen werden, und was auf sie zukommt (was leider die Elterngeneration heute nicht mehr zu leisten in der Lage zu sein scheint), dann setzt man sie sehenden Auges der Gefahr aus, von eben diesen Steueroptimierern und Versicherungsvertreten mit unglaublichem Schwung über den Tisch gezogen zu werden – wie es ja auch heute schon besser informierten Menschen passiert. Sollen wir das tatsächlich zulassen? Ich glaube nicht.

Ich gehe regelmäßig in Schulen und spreche mit den Kindern, die vor ihrem Schulabschluss und dem Übergang zum Berufsleben stehen, über „das Leben“. Es ist erschütternd, wie wenig diese Generation heutzutage weiß, und nach diesen Gesprächen ist es oft sehr ernüchternd zu sehen, wie oft auch die Lehrer und Lehrerinnen sich über diese Punkte wenig bis keine Gedanken gemacht haben.

Sylke Remmel-Heintzsch

Foto: Handelsblatt

Mein Weg ist es, die jungen Menschen erstmal nach ihren Berufsvorstellungen zu befragen – diese notiere ich auf einer der Tafelklappen, die ich dann wegklappe. Dann frage ich, was sie denken, wieviel Geld sie monatlich wohl benötigen werden, wenn sie sich „selbständig“ machen und daheim ausziehen – die abenteuerlichsten Antworten von „nicht mehr als ca. 500 Euro“ bis zu absurdesten Zahlen sind Standard. Ab damit auf die andere Klappe und wegklappen.

Nun frage ich, welche laufenden Kosten denn wohl anfallen werden – Brainstorming-mäßig, alle machen mit (ich hab‘ eine kleine Checkliste, manchmal kann man gezielt ein wenig lenken, damit nichts Wichtiges vergessen wird). Wenn nichts mehr kommt, ermitteln wir gemeinsam die Höhe der jeweiligen Kostenpositionen, dabei hilft ein wenig Erfahrung und Realitätssinn… Addieren lasse ich das dann von den Jugendlichen, und die sind häufig sehr erstaunt, wenn da üblicherweise Beträge irgendwo zwischen 1500 Euro und 1750 Euro herauskommen.

Start in das neue Schuljahr

Stundenpläne für Loser

Dann kommt der Schock: Okay, das also benötigt Ihr netto pro Monat. Reaktion: „Netto? Wieso netto? Was bedeutet das denn?“ Also muss man jetzt erklären, was der Unterschied zwischen Brutto- und Netto-Einkommen ist. Und die Frage beantworten, warum wir denn so viele Steuern und Abgaben zahlen müssen. Glauben Sie mir, das ist nicht immer einfach.

Gut, dann steht da ein Brutto-Monatsentgelt an der Tafel: Irgendwo zwischen 1800 und 2100 Euro.

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Jetzt bekommen die Kids eine Aufgabe: „Recherchiert im Internet anhand der Berufe, die Ihr eingangs gewählt habt, welches Tarifeinkommen Ihr damit regelmäßig erzielen könnt.“

Sie können sich die Ernüchterung eventuell vorstellen?

Sie können sich vorstellen, wieviel ausgeprägter der Mangel an Realitätssinn und damit das Delta zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den Kindern ist, die keine Gymnasien mit Ziel auf Studium und hochqualifizierte Arbeit, sondern Real- und Hauptschulen besuchen?

Sie können sich vorstellen, wie oft ich mir wünsche, man könnte diesen Kindern früher helfen zu verstehen, warum es in einer Leistungsgesellschaft wie der unseren sinnvoll ist, sich frühzeitig mit Fächern wie Deutsch, Mathe, Englisch und auch Computerwissen anzufreunden?

Ja, es ist sicher schön und auch sinnvoll, Gedichte zu verstehen und interpretieren zu können. Aber es macht nicht satt.

Und nach Maslows Hierarchie der Bedürfnisse ist es eine Pyramide, die eben NICHT auf der Spitze (Selbstverwirklichung) steht, sondern auf ihrer Basis (Erfüllung der lebensnotwendigen Bedürfnisse). DAS ist die Realität, mit der sich die jungen Leute auseinandersetzen müssen, und für diese sollten wir ihnen auch das notwendige Rüstzeug mitgeben. Das leisten heute leider weder die Schulen noch – traurigerweise – viele Elternhäuser im notwendigen Umfang – wohl auch aus eigenem Mangel an Befähigung oder Wahrnehmung der Notwendigkeit.

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Sylke Remmel-Heintzsch arbeitet als Trainerin an deutschen Hauptschulen, um Schüler für die Berufswelt fit zu bekommen. Ihr Gastkommentar dienst als Debattenbeitrag.

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