Gastkommentar: „Der Staat ist zur Beute der Parteien geworden“
Der Berliner Finanzwissenschaftler Markus C. Kerber.
Foto: HandelsblattHin und wieder hat das Medium Fernsehen unbestreitbare Vorteile. Dann nämlich, wenn es für alle sichtbar, die Mediokrität der politischen Klasse in Szene setzt. So geschah es, als Frau Slomka die Frage nach der politischen Legitimität und verfassungsrechtlichen Relevanz der SPD-Mitglieder-Befragung an den Talk-Show-verwöhnten Sigmar Gabriel richtete. Es war, als ob ein kleiner spitzer Pfeil ein altes Nashorn gefällt hätte. Gabriel – gesprächsdialektisch überfordert – konnte nicht wechseln und fand die Frage der insistenten Journalistin so impertinent, dass er sie im Orkus des „Blödsinns“ verorten wollte.
Die Entzauberung des Sigmar Gabriel durch eine kühl-elegante Fragestellerin ist mehr als ein Intermezzo. Sie belegt, dass sich nicht nur Gabriel sondern die gesamte politische Klasse bestens im Parteienprivileg des Grundgesetz-Artikels 21 eingerichtet hat. Hiernach wirken freilich die Parteien bei der politischen Willensbildung mit und müssen allerdings bei sich innerparteiliche Demokratie praktizieren.
Was aus diesem Privileg geworden ist, sehen wir nicht nur an den wildwuchernden Stiftungen der Parteien, die, sämtlich staatsfinanziert, in allen Ländern der Welt ihre Zweigstellen unterhalten und immer einen Job für gescheiterte Mandatsträger auf Lager haben. Noch bedeutender ist das Parteienprivileg für die Vorauswahl der Bundestagskandidaten.
Wer über die Liste kommt, wird nie sein Mandat frei ausüben und schielt bei seiner parlamentarischen Tätigkeit stets auf die Wiederwahl. Landeslisten, 5-Prozent-Klausel und das System „parlamentarischer Staatssekretäre – für besonders verdiente, sprich loyale Bundestagsabgeordnete – haben den Bundestag zu einer Versammlungsstätte von Befehlsempfängern gemacht.
Wer mit vorauseilendem Gehorsam die Fraktionsführung unterstützt, macht Karriere. Die Diaspora von Abgeordneten, die den Grundgesetz-Artikel 38 ernst nimmt, hat es nicht nur schwer, sondern riskiert, von den Räderschmierern der Parteioligarchie wie Hermann Gröhe bespuckt zu werden. Der Sozialdemokrat Herman Scheer hat dieses System in seinen Büchern so deutlich beschrieben, dass er innerhalb seiner Fraktion nur noch – mit Rücksicht auf seine Reputation außerhalb des Parlaments – geduldet wurde.
Wer die parteilichen Niederungen scheut und allein mit seiner Stimme als Wähler den demokratischen Prozess steuern will, hat in Deutschland schlechte Karten. Denn er hat im Unterschied zu aktiven Parteimitgliedern weniger Gestaltungsrechte. Weder kann er sich die Kandidaten aussuchen, noch ist er sicher mit seiner Stimme ein Votum abgegeben zu haben, welches von den Mandatsträgern respektiert wird. Mehr noch: Wen auch immer er wählt, er weiß nicht, was schließlich bei der Regierungsbildung herauskommt.
Dieses Legitimitätsmanko indirekter Demokratie will Gabriel bei seinen immerhin noch 470.000 Mitgliedern – es waren einst mehr als 1 Million – reparieren. Er gibt damit beste Anschauung dafür, wie die Parteien den demokratischen Staat kolonisiert haben. Denn der Staat ist zur Beute der Parteien geworden. Sie betrachten sich – wie die Selbstgefälligkeit von Gabriel belegt – als Staatsparteien. Mag Herr Gabriel mit seinen Plattitüden die Zustimmung der SPD für eine Koalition bekommen, die seine Genossen nie wollten und für die Frau Merkel am 22. September nie so viele Stimmen bekommen hätte.
Das Volk hat Gabriel – hat die gesamte politische Klasse – längst verloren. Jene Bürger, die ohnmächtig zuschauen, wie mehr als zwei Monate nach der Wahl eine Regierung zur Führung Deutschlands immer noch nicht bestellt ist, weil sich die Parteioligarchen noch nicht über die Aufteilung der Beute geeinigt haben.
Was tun? Womit beginnen? Natürlich verbleibt die Möglichkeit, nicht zu wählen. Diese Option ist hochpolitisch, weil die Parteien nichts mehr fürchten als eine geringe Wahlbeteiligung. Dies nagt an ihrer Legitimität.
Konstruktiver ist das Postulat nach der ersatzlosen Streichung des Grundgesetzartikels 21 (Parteienprivileg) und einer flächendeckenden Einführung des direkten Wahlrechts. Das gibt dem Newcomer außerhalb von Parteien eine Chance und den Wählern die Sicherheit zu wissen, was mit ihrem Votum geschieht.
Jedenfalls hätten sie so die Möglichkeit, einen Mandatsträger, der sich nicht an sein Programm hält, zu sanktionieren. In der gegenwärtigen Verfassungslage ist die Sanktionierung durch Wählerentscheid an hohe Voraussetzungen gebunden. Sie bleibt auf jene Extremfälle beschränkt, in denen eine Partei genau das Gegenteil dessen tut, was sie bei der Wahl verkündet hat. Der tiefe Fall der FDP bleibt bislang ein Unikat und hinterlässt ein Parlament ohne bürgerliche Opposition.
Die Mitgliederbefragung der SPD wird angesichts des brüchigen programmatischen Eises zwischen Union und SPD kein Einzelfall bleiben, bei dem ein Parteivorsitzender sich des Rückhalts durch eine nie demokratisch legitimierte, geschweige denn gewählte „Basis“ versichern muss. Eine solche Praxis – zulasten der Millionen von Nicht-Parteimitgliedern – wäre mit dem demokratischen Prinzip nicht vereinbar.
Sie veranlasst indessen, darüber nachzudenken, ob neben dem direkten Wahlrecht für Bundestagsmandate auch der Regierungschef direkt vom Volk gewählt werden sollte. Dies würde das Parlament – ähnlich wie den US-Kongress – wieder zum Parlament machen und den Bürgern – also dem pouvoir constituant - ihr Wahlrecht zurückgeben, bevor sie aus Frustration über die triste Realität des Parteienstaats hierauf endgültig verzichten.
Markus C. Kerber ist ein Rechts- und Finanzwissenschaftler und seit 2006 Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin. 1998 gründete er den interdisziplinären Thinktank Europolis, um die europäische Ordnungspolitik neu auszurichten