Berliner Künstlerin Sarah Illenberger: Schau, Fenster!

Bürsten und Pinsel werden zu Gräsern und Steppenbewohnern bei Hermès (2016).
Berlin. Woher die Kreativität kommt, kann Sarah Illenberger selbst kaum beschreiben. Meist wird sie von Ideen einfach überrannt. „Mir schwirren sehr viele Dinge im Kopf herum“, sagt sie. Die besten Gedanken würden bleiben. So wie die Wassermelone, aus der Kerne regnen. „So was lässt sich nicht wegdenken, bis es umgesetzt ist.“ Sie nippt an der selbst getöpferten Espressotasse. „Ich muss viel filtern, priorisieren. Es ist ein nicht endender Prozess.“
Ein regnerischer Morgen Anfang März, Berlin ist grau. Aber in Illenbergers Studio, mitten im Kunstquartier der Weddinger Gerichtshöfe, ist alles bunt: Auf den Werkbänken stehen Blumen aus künstlichen Fingernägeln, ein Kaktus aus grünen Nadelkissen, unter dem Tisch ein vergoldeter Mülleimer. Von der Decke hängen zwei rosa Lampen wie Turnringe. In Kisten stapeln sich Farbdosen, Stoffrollen, Papierbögen. Kreativität ist überall.
An einer Wand steht ihr aktuell wichtigstes Projekt: Es sind vier Holzminiaturen, 30 Zentimeter breit, alle vor gelb-schwarz-kariertem Hintergrund. Eine Schere, ein Stempel mit Kissen, ein Zirkel, ein Abroller für Klebeband, penibel angeordnet, gebaut aus Holz und Pappe. Es sind die finalen Entwürfe für ihren wichtigsten Kunden: Hermès. In München hat die französische Luxusmarke Mitte März einen neuen Store eröffnet. Die Schaufenster hat Illenberger kreiert.

1976 in München geboren, die Mutter ist Goldschmiedin, der Vater Gastronom. In London studiert sie Grafikdesign am Central Saint Martins, Schwerpunkt Illustration. 2001 gründet sie mit ihrem damaligen Freund ein Schmucklabel. Danach fünf Jahre bei „Neon“. Seit 2007 hat sie ihr ‧eigenes Künstler-Studio in Berlin. Berühmt vor allem für ihre 3D-Illustrationen, in denen sie Obst, Gemüse und ‧Alltagsgegenstände dekonstruiert und neu arrangiert.
Die 40-Jährige ist eine der weltweit gefragtesten deutschen Künstlerinnen der Gegenwart. Wobei der Begriff Kunst viel zu kurz greift. Illenberger ist Bastlerin, Fotografin, Designerin. Eine Illustratorin dreidimensionaler Welten. Sie verformt Objekte, entfremdet sie, komponiert sie neu, vor allem Obst und Gemüse, Alltagsgegenstände. Sie entwirft Kunst- und Designobjekte und hat vor keinem Material Berührungsängste. So haucht sie auch Schaufenstern neues Leben ein, nicht nur bei Hermès, auch für das Hamburger Alsterhaus oder das US-Label Fruit of the Loom. Ihre Auftragsarbeiten wurden im Magazin der „New York Times“ abgedruckt, in „Time“, im „Zeit-Magazin“.
An den ersten Auftrag aus Paris erinnert sich Illenberger noch gut. 2011 eröffnete Hermès einen Markenstore im Berliner KaDeWe. Sie durfte die Schaufenster des Kaufhauses gestalten. „Ich habe die gesamte Installation aus Papier gemacht“, erzählt sie. Ein Schiff mit Seidentüchern als Segel, ein Flamingo mit Krawatte, schwebende Trommeln. Alles muss stimmig sein, zur Marke passen, zum Jahresthema. Die Vorgaben aus Paris sind streng, auch der Vorlauf ist enorm: „Gestern erst habe ich die Entwürfe der Weihnachtsfenster abgeschickt“, erklärt sie – im März.
Viermal im Jahr wechselt Hermès seine Kulisse. In jedem Land arbeiten andere Künstler daran. 2016 verantwortete Illenberger den Auftritt aller deutschen Stores nur im Herbst. Das Thema: Steppe. Dafür ließ sie wochenlang Gräser, Blüten und Büffel aus Pinseln, Bürsten und Besen zusammenbauen. Dieses Jahr ist sie gleich für drei Jahreszeiten verantwortlich.
„Es ist immer ein Balanceakt zwischen der Corporate Identity des Kunden und der eigenen künstlerischen Identität“, sagt Illenberger. Doch mittlerweile ist die Beziehung vertraut. „Eigentlich bin ich gar nicht der Typ für langfristige Projekte“, findet sie selber. Aber die Zusammenarbeit mache sehr viel Spaß, sie mag, dass die Kultur des Geschichtenerzählens gepflegt wird. Und auch wenn Illenberger keinen Einblick in ihre Finanzen gibt: Das Hermès-Engagement dürfte ziemlich lukrativ sein.
Der Mini als zweites Atelier
Es ist jetzt fast Mittagszeit. Illenberger geht zum großen Tisch in der Mitte ihres Studios. Sie greift sich eine Vintage-Fliese aus Lissabon, ein Projekt für ein Reisemagazin, zerhackt damit eine Walnussschale, steckt das weiche Innere in den Mund. Daneben liegen alte Ingwerstücke, sie hatte sie zu einem Kerzenständer zusammengenagelt. Nun bricht sie ein Stück aus dem Kunstwerk, zerkaut es roh. „Ich habe heute noch nicht gefrühstückt“, sagt sie fast entschuldigend.

Metallene Blätter für die Eröffnung des Breuninger-Kaufhauses in Düsseldorf (2013).

Schiffsmasten für die Eröffnung der Luxury Hall im Hamburger Alsterhaus (2016).

Drachenkonstruktion für die schwedische Modemarke COS in Berlin (2010).
Kurz darauf sitzt sie hinter dem Steuer ihres Minis. Er sieht aus wie ihr zweites Atelier, der Kofferraum voller Krimskrams. Nur auf der Rückbank ist Platz für den Sitz ihrer vierjährigen Tochter. „Ich finde, dass Geschäfte eine Verantwortung für das Stadtbild haben“, sagt sie. Schaufenster in Fußgängerzonen: oft schrecklich. Apotheken, in denen Bazillen herumturnen. Optiker, die krampfhaft Brillen arrangieren.
Viele Firmen würden viel Geld in digitale Werbung stecken und dafür auf gut gemachte Schaufenster verzichten. „Dabei sind sie die beste Werbung“, meint Illenberger. „Über Handyfotos landen sie wieder in Social Media und verbreiten sich von allein.“ Das Schaufenster als Werbefläche erlebe derzeit ein Revival. „Ich glaube, dass wir uns gerade in diesen digitalen Zeiten nach Analogem sehnen, nach Wertigkeit, Haptik. Wir wollen die Dinge anfassen können.“
Illenberger biegt plötzlich links ab, sucht einen Parkplatz. „Ich muss noch kurz in den Baumarkt“, sagt sie. Zielstrebig läuft sie zum „Farbton-Center“. „Was darf es heute sein?“, fragt eine Mitarbeiterin. „Einmal E00575, Wandfarbe, matt, ein Liter“, sagt sie. Dazu bestellt sie noch zwei weitere Farbtöne. Diesmal ist es keine Auftragsarbeit, sondern ein Privatprojekt: der Anstrich ihrer neuen Wohnung, in die sie bald auch einen kleinen Showroom integrieren will.
„Ich liebe Farben“, sagt Illenberger und trägt die Dosen zurück zum Auto. „Sie lösen sofort eine Reaktion aus, in wenigen Sekunden kann man mit ihnen einen großen Effekt erzeugen.“ Farben seien immer ein Teil jedes Kunstobjekts. „Sie sind wandelbar, mit oder ohne Licht, an der Grenze zwischen warm und kalt.“ Sie kann über Wandfarben reden wie andere Menschen über teure Weine oder gutes Essen.
Geerbter Geschäftssinn
Das Essen gibt es dann auch noch, im „Schädels“, einem kleinen Bistro im Prenzlauer Berg. Es ist ihr Lieblingsrestaurant in Berlin, wenige Tische, offene Küche. Sie kommt hier jeden Tag zum Mittag, auch zum Frühstücken, wenn sie es wie heute nicht vergisst. Das Faible fürs Stammlokal hat sie von ihrem Vater, erzählt sie. Er war viele Jahre Gastronom in München, in seiner Szenekneipe, direkt am Viktualienmarkt, gab es damals den „besten Kaffee der Stadt“.

Sarah Illenberger vor der Projektwand in ihrem Studio in Berlin-Wedding.
Direkt nebenan betrieb ihre Mutter das Schmucklabel Sévigné. Nach dem Kindergarten ging es in den Laden. „Die Erwachsenenwelt hat mich immer sehr inspiriert“, sagt Illenberger. Sie begrüßte die Kunden, dekorierte die Schaufenster. Auch im Urlaub war das Einzelkind kreativ. Für ein paar Jahre hatten sie ein Haus auf der griechischen Insel Paros. Im Sommer blieb sie vier Monate, der Postbote kam auf dem Esel. „Ich habe Strandgut gesammelt, es in Zigarilloschachteln für eine Mark verkauft.“
Gerade als sie in Erinnerungen schwelgt und vor ihrem Teller mit Risottobällchen sitzt, bekommt Illenberger eine Anfrage von ihrem Agenten weitergeleitet. Samsung will mit ihr zusammenarbeiten, der IT-Gigant aus Südkorea. Illenberger verzieht nicht mal eine Miene. „Das muss ich mir noch mal durch den Kopf gehen lassen“, sagt sie und legt das Handy wieder weg. Eigentlich habe sie gerade genug zu tun.
Wer sich als Künstler Aufträge aussuchen, wer Samsung ablehnen kann, der hat es wirklich geschafft. Illenberger ist dafür einen langen Weg gegangen. Grafikdesign-Studium in London. Eigenes Schmucklabel mit dem Ex-Freund. Fünf Jahre lang Illustratorin beim Magazin „Neon“. Seit 2007 das eigene Studio. Zehn Jahre später sind selbst Fotos ihrer Kunstwerke zu Sammlerobjekten geworden. Sie verkauft sie für 300 Euro pro Stück in die ganze Welt.
Es gibt wenige Rückschläge in ihrer Karriere, kaum Unerreichtes. Ein Traum aber platzte dann doch: eine Coverstory für den „New Yorker“, das renommierteste Magazin der Welt. Die Aufgabe damals: eine Illustration zu einer Geschichte von T. C. Boyle, Science-Fiction. Für Illenberger schwer zu bebildern. Ihre Objekte holt sie alle aus der Realität. Am Ende entschied sich die Redaktion gegen sie.





Dabei gleicht Illenberger einem vor Ideen nur so sprudelnden Vulkan, immer aktiv. Auch im Urlaub. Als sie das letzte Mal am Strand war, entdeckte sie schöne Steine. Ihren Accessoire-Koffer hatte sie nicht dabei. Also bestellte sie im Internet Schnürsenkel, am nächsten Tag kam das Paket an, die Steinschuhe waren perfekt. Fast jeden Tag postet sie solche Schmankerl auf Instagram. „Abschalten kann ich gar nicht mehr“, gibt sie zu.
Im vergangenen Jahr nahm sie sich eine zweimonatige Auszeit in Italien. Wobei das bei ihr heißt: kreativ sein, aber nur mit eigenen Ideen, ohne Aufträge. Die Hälfte der Zeit war Tochter Roberta dabei. Jeden Tag bastelten sie, ein Pferdestall diente als Atelier. Sie braucht solche Freiräume. „Je mehr ich mich bemühe, etwas Einzigartiges hinzubekommen, desto verkrampfter werde ich“, sagt sie. Vielleicht wird sie bald öfter im Süden sein, für solche Auszeiten: Ihre Mutter hat ein Ferienhaus in der Toskana. Illenberger überlegt, sich dort ein kleines Zweitstudio zu bauen.





