Katastrophe in Italien: Neues Beben, altes Trauma
Rom. Um 3.36 Uhr ist die Uhr auf dem Kirchturm von Amatrice stehengeblieben. Da kam das erste Beben. Ein Stoß mit einer Stärke von 6 auf der Richterskala. Auch in der Hauptstadt Rom, 150 Kilometer vom Epizentrum an der Grenze des Latiums, Umbriens und den Marken entfernt, wachen die Menschen mitten in der Nacht auf. Der erste Stoß ist deutlich zu spüren, das Bett schaukelt, die Erde bewegt sich. Genau 45 Minuten später das zweite Beben. Die mehr als 30 schwächeren Nachbeben spüren nur die Menschen im Krisengebiet.
Das Foto eines Kirchturms mit Uhr inmitten von Trümmern war eines der Bilder aus L'Aquila, die im Gedächtnis der Italiener geblieben sind. Dort zerstörte ein Erdbeben im April 2009 die Stadt – und merkwürdigerweise bis auf zwei Minuten Unterschied zur gleichen Uhrzeit.
Die Bilanz damals: 309 Tote, mehr als 1.600 Verletzte und ein geschätzter Schaden von mehr als zehn Milliarden Euro. „Bei L'Aquila ging es um eine Landeshauptstadt, hier ist die Bevölkerung mehr verteilt im Landstrich“, sagt Fabrizio Curcio, der Chef des nationalen Zivilschutzes. Deswegen hoffe er diesmal auf weniger Opfer.
Curcio war einer der ersten, die am Morgen in das Erdbebengebiet aufbrachen. Ihm folgte Verkehrsminister Graziano Delrio. Und auch Premier Matteo Renzi sagte eine Reise zum Treffen der sozialdemokratischen Regierungschefs in Paris ab und fuhr am Nachmittag in das Krisengebiet. „Priorität hat die Suche nach Überlebenden“, hatte er am Vormittag in einer offiziellen Erklärung gesagt. „Wir lassen niemanden allein“, so Renzi weiter, der den vielen Freiwilligen für ihren Einsatz dankte.
Papst Franziskus unterbrach seine Generalaudienz und gedachte der Opfer. Aus ganz Europa trafen Beileidsbekundungen und Hilfsangebote ein. Beim Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen in Brüssel habe Italien die Nutzung des EU-Satellitenbilder-Dienstes EMS angefragt, heißt es von der EU. Vor Ort müssen Verletzte versorgt und Zelte und Feldküchen für die rund 1000 Obdachlosen gebaut werden.
Die offizielle Bilanz am Mittwochabend noch 159 Tote, Hunderte von Verletzten und rund 2500 Menschen ohne Dach über dem Kopf. Am Donnerstagmorgen korrigiert der Zivilschutz die Zahl der Todesopfer auf 247. Mit Hochdruck wird noch immer nach verschütteten Überlebenden gesucht, während es weitere leichte Nachbeben gibt.
Das Epizentrum des Erdbebens lag bei der 600-Einwohnerstadt Accumoli in der Provinz Rieti. „Der Ort existiert nicht mehr“, sagte Bürgermeister Stefano Petrucci im Fernsehen. Große Schäden gab es auch in Amatrice und Pescara del Tronto. Die Häuser seien wie Kartenhäuser zusammengestürzt, sagte ein alter Mann im Fernsehen.
In Amatrice, einem beliebten Ferienort in den Bergen, aus dem die berühmten „spaghetti all’amatriciana“ mit Speck und Tomaten stammen, wurde das historische Zentrum zerstört und das Hotel „Roma“ verschüttet, alle 40 Zimmer waren ausgebucht. Die Gegend ist nicht stark besiedelt, doch die Hilfstruppen haben es schwer, zu den verstreut liegenden Ortschaften vorzudringen.
Schon eine Stunde nach dem Erdbeben war der Krisenstab in Rom eingerichtet – Italien hat schmerzlich gelernt, mit solchen Naturkatastrophen umzugehen, die das Land seit Jahrhunderten plagen. 2012 zerstörte ein Erdbeben bei Parma Häuser und Fabriken, 1997 nahm bei einem Erdbeben in Umbrien die Franziskus-Kirche in Assisi Schaden.
Die Rettungsmaschinerie läuft wie geschmiert: Zivilschützer, Freiwillige und Militärs arbeiten Hand in Hand und versuchen vor der Dunkelheit in den Trümmern Verschüttete aufzuspüren. Am Nachmittag sagte Curcio, alle Orte, auch die abgelegenen Dörfer in der Gebirgsregion, seien von den Hilfstrupps erreicht worden.

Gleichzeitig kommen Hilfsangebote. Der Industrieverband Confindustria will sich vor Ort engagieren, Wirtschafts- und Finanzminister Pier Carlo Padoan erklärte, im Notfonds für Naturkatastrophen seien 246 Millionen Euro, die eingesetzt werden könnten. Der Bankenverband ABI erklärte, in den betroffenen Gebieten würden die Ratenzahlungen für Hypotheken auf private und gewerbliche Immobilien ausgesetzt, die größte italienische Bank Intesa Sanpaolo kündigte einen Fonds von 250 Millionen Euro an für Schäden an Häusern, Geschäften und Unternehmen und werde für die Versorgung mit Bargeld im Erdbebengebiet sorgen. Für eine Bezifferung des Schadens ist es noch zu früh.
Das Gebiet um Rieti sei „von hohem Erdbebenrisiko“, sagt Alessandro Amato vom Institut für Geophysik und Vulkanologie (INGV). Er rechnet mit weiteren Erdstößen in den nächsten Tagen. Schuld für die immer wiederkehrenden Erdbeben ist nach Angaben von Experten eine Ausdehnungsbewegung des Gebirgszugs Apeninn, der Italien von Nord nach Süd in zwei Hälften teilt.
Über Twitter wurde eine merkwürdige Parallele in die Welt geschickt: Genau am 24. August, im Jahr 79 nach Christus, brach der Vesuv aus und begrub Pompeji unter seiner Asche.





