25 Jahre „Starlight Express“: Rendite auf Rollschuhen

Andreas Wolfram tanzt und singt als Diesellok „Greaseball“.
Düsseldorf. Manchmal irrt auch ein Milliardär. Joop van den Ende hatte vor einigen Jahren die Chance, sich die Rechte am Musical Starlight Express zu sichern. Doch der Mitbegründer der zweitgrößten Fernsehproduktionsfirma der Welt, Endemol, winkte damals ab. Ein Fehler, wie er heute weiß. Denn noch immer zieht die Geschichte um den Wettbewerb der zum Leben erweckten Eisenbahnen, garniert mit einer Liebesgeschichte, aufgeführt auf Rollschuhen zur Musik von Musical-Ikone Andrew Lloyd Webber. Die deutsche Uraufführung in Bochum liegt jetzt 25 Jahre zurück.
Fast 15 Millionen Besucher haben das rasante Rollschuh-Märchen gesehen. Es ist das erfolgreichste Musical, unter denen, die stets an ein und demselben Standort aufgeführt wurden. Dieser Erfolg überraschte nicht nur den niederländischen Musical-Tycoon van den Ende, der hinter Stage Entertainment steht, dem größten Player der deutschen Musicalszene. Auch andere Fachleute wie der Direktor des Deutschen Bühnenvereins, Rolf Bolwin, sind verwundert über die Zugkraft – war Starlight Express doch in der Phase des leichten Rückgangs auf dem Musicalmarkt zur Jahrtausendwende totgesagt.
Dass die Rollschuhe und mit ihnen der Rubel in Bochum weiter rollen, ist eine Ausnahmegeschichte in der Branche. Mittlerweile wechseln die Stücke meist nach zwei bis fünf Jahren ihren Standort. „Denn man hat festgestellt, dass die Leute doch keine sehr langen Reisen in Kauf nehmen, um ein Musical zu sehen“, sagt Bühnenvereins-Direktor Bolwin. Musicals wie Starlight oder auch König der Löwen mit 12 1/2 Jahren in Hamburg sind die absolute Ausnahme.
Ein solcher Klassiker mit Strahlkraft zu werden, hängst massiv vom Standort ab. Lässt sich Musical mit einer Städtereise verbinden, haben die Produzenten gute Karten auf gute Rendite. Das funktioniert in Hamburg wie in keiner anderen Stadt in Deutschland. Jede sechste Hotelübernachtung führen die Hamburger auf „König der Löwen“, „Tarzan“, „Rocky“ und Co. zurück. Jedes Pärchen, das dort ein Musical besucht, lässt laut Erhebungen der Stage 870 Euro in der Hansestadt. Musicals sind damit längst auch Tourismusfaktor. Bundesweit machen sie ein Viertel der Umsätze im Bereich der Musikveranstaltungen aus. Der Markt ist gemessen allein an den Eintrittskarten (Umsatz zwischen 450 und 600 Millionen Euro) sogar anderthalbmal so groß wie der der Bundesliga (etwa 300 Millionen Euro), hat Jürgen Schmude, Professor für Wirtschaftsgeographie und Tourismusforschung, erhoben. Sind zwar in dem Vergleich die deutlich stärkeren Posten von Vermarktung und Merchandising in beiden Fällen nicht berücksichtigt, werfen die Zahlen jedoch ein Schlaglicht auf die Marktnische der Musicals – und deren Potenzial.

Ensemblemitglieder von Starlight Express proben.

Georgina Hagen (rechts) als Erste-Klasse-Wagen Pearl und Mykal Rand als E-Lok Elektra treten in Bochum im Musical „Starlight Express“ auf.
In Deutschland ist Hamburg der unangefochtene Broadway. Doch Musical-Pionier Rolf Deyhle, der in den 80ern mit der Stella AG – später nach hausgemachter Insolvenz von Stage übernommen – den Musicalboom in Deutschland begründete, wollte bewusst mehrere Zentren der leichten Muse schaffen. Seine Tickets vergab er damals an Busreiseunternehmen und Tourismusanbieter, die anschließend als Wiederverkäufer auftraten. „Ich musste gar keine Werbung mehr machen“, sagte er einmal.
Doch die gewinnbringende Kombination von Standort und Musikmärchen funktioniert nicht immer. „Man kann nicht jedes Musical an jedem Ort spielen“, sagt Maurice Lausberg, Professor für Kulturmanagement an der Musikhochschule für Musik und Theater München und Unternehmensberater ebensolcher Kultur- sowie Sportanbieter. Ort, Geschichte und Zeitgeist müssen passen: Nicht funktioniert hat das etwa mit „Sunset Boulvevard“ auf dem platten Land in der Nähe von Wiesbaden oder auch „Titanic“ in Hamburg – laut Stage-Geschäftsführer Johannes Mock-O’Hara der größte Flop in der Geschichte von Stage Entertainment. Auch, weil kurz nach 9/11 niemand auch noch in einem Musical den Weltuntergang sehen wollte. Doch wo das Konzept aufgeht, etwa in Bochum mit auch enormer regionaler Strahlkraft, werden solide Renditen geschrieben.
Wie hoch die genau sind, sagt keiner der Branchenriesen öffentlich. Im Schnitt gehen Experten wie Maurice Lausberg aber von einer einstelligen Rendite aus. Das ist ein Durchschnittswert, denn der Gewinn schwankt massiv. Während einige Produktionen zweistellige Renditen erwirtschaften, schaffen andere nicht mal die schwarze Null. „Den Moment abzupassen, an dem ein Stück sich überspielt hat und dann nicht ins Minus zu rutschen, ist sehr schwierig“, sagt Professor Jürgen Schmude, der sich besonders mit dem Standort als Erfolgsfaktor für Musicals beschäftigt hat. „MehrEntertainment“ aus Düsseldorf, die neben „Starlight Express“ weitere Musicals produziert und nach Stage die deutsche Nummer zwei, fährt daher ein etwas anderes Konzept: Das Unternehmen unterhält unter anderem sieben Spielstätten. Selbst die Häuser zu vermieten und nicht überall Musicals zu produzieren, mache das Geschäft risikoärmer, sagte Maik Klokow, einer von zwei „MehrEntertainment“-Geschäftsführern in einem Interview.
Der deutsche Branchenriese Stage geht inhaltlich auf Nummer sicher: Statt eigene Musicals zu entwickeln, setzt er auf Lizenzproduktionen mit bekannten Namen als Publikumsgaranten: Disneys „König der Löwen“, das Abba-Musical „Mamma Mia“. Udo Jürgens‘ „Ich war noch niemals in New York“ oder Udo Lindenbergs „Hinterm Horizont“ sind zwar selbst produziert, aber eben auch mit großen Namen und großen Geschichten im Rücken, die im kollektiven Gedächtnis bereits ihren Platz haben. Damit minimieren die Macher der leichten Muse die Flop-Wahrscheinlichkeit. „Bei der Auswahl des Stoffs achten wir natürlich darauf, wie vermarktbar er ist“, sagt auch Stage-Sprecher Stephan Jaeckel.
Ein erstaunlicher Erfolg gelingt Stage mit dem Box-Musical „Rocky“. Von dem Konzept überzeugte Mock O’Hara erst die Klitschko-Brüder und dann Rechteinhaber Sylvester Stallone. „Rocky“ ist das erste Musical, das von Deutschland aus den Sprung an den Broadway schaffte – sonst war es stets umgekehrt. Dort wird es nach sehr guten Kritiken des US-Feuilletons seit März gespielt. Wieder ist die bekannte Geschichte das Zugpferd. Ein bekannter Name hilft zumindest etwas, das Risiko zu minimieren. „Bei Produktionskosten von zehn bis 15 Millionen Euro ist das aber immer ein großes Risiko“, sagt Lausberg. Und es gibt auch Fällen, in denen große Namen nicht funktionierten: „Der Schuh des Manitu“ floppte trotz Blockbuster-Filmvorlage, ebenso wie „Lady Di“. Stattdessen könnte der Export tatsächlich künftig für die deutschen Unternehmen interessant werden. „Sister Act" von Stage soll in Südkorea und Wien gespielt werden und sogar „Ich war noch niemals in New York“ soll in Tokio anlaufen. Dass der deutsche Markt bereits gesättigt ist, glauben weder Stage noch „MehrEntertainment“. Das bestätigt auch Fachmann Lausberg: „Der Markt für weitere Produktionen ist auf jeden Fall da.“ So bauen derzeit die beiden Konkurrenten jeweils neue Häuser in Hamburg.

Für Experimente ist im deutschen Musicalmarkt kaum Platz. Das liegt auch am Publikum. Anders als in den USA, wo es den Off- und Off-Off-Broadway als Testbühnen vor nur mal 200 Zuschauern gibt, wo aber auch das Musical höher angesehen ist als in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg schafften mit Frederick Loewe, Leonard Bernstein und Co. Komponisten in den USA ein neues, intellektuell anspruchsvolles Musiktheater. „In den USA war das Musical damals quasi die Fortsetzung der populären Oper“, sagt Lausberg.
In Deutschland dagegen setzte man sich musikalisch eher auf die klassische und ernste Art mit Stoffen auseinander, und als dann in den 80er Jahren das Musical aufkam, haftete ihm der Stempel der leichten Muse, der Show an, die anders als Theater oder Oper keine gesellschaftlichen Debatten vorantreiben, sondern schlichtweg unterhalten will – und zwar alle: vom Kind bis zum Großvater. Das war am Mittwochabend auch in Bochum wieder so: Da lud „MehrEntertainment“ zur großen Galavorstellung auf Rollschuhen. Mit dabei bei der Geburtstagsparty und der 9777. Show neben 400 ehemaligen Darstellern: Andrew Lloyd Webber, der den Welterfolg seines Rollschuh-Musicals unerwartet statt im schicken Londoner Westend im Pott feierte.





