Rezension Annäherung an ein Lebenswerk: Das neue Buch über den Fotografen Helmut Newton

Modefotos haben nach Ansicht von Newton selten etwas mit Logik zu tun. Jedes zeige einen einzigen Moment, ohne Anfang und Ende, schrieb er in seiner Autobiografie (Ausschnitt).
Düsseldorf Achtzehn Jahre nach ihrer Gründung ist die Helmut Newton Foundation noch immer ein Schatz, der nicht vollständig gehoben ist. Er ist mit schätzungsweise zwischen 400.000 und 500.000 Schwarzweiß- und Farb-Negativen sowie Farb-Diapositiven so umfangreich, dass Stiftungsleiter Matthias Harder ihn für seine Ausstellungsprojekte peu-à-peu stichpunktartig erschließen muss.
So auch für den gerade bei Taschen erschienenen Band „Helmut Newton Legacy“, der die gleichnamige, in Berlin in der Stiftung startende Ausstellungstournee begleitet: opulent bebildert, über 420 Seiten stark und drei Kilogramm schwer. Etwas anderes war bei Taschen auch nicht zu erwarten.
Wer nun angesichts von Titel und Anlass – 2020 jährte sich der 100. Geburtstag Newtons – so etwas wie einen grundlegenden, methodisch fundierten Überblick über das Werk des Modefotografen erwartet hat, wird jedoch enttäuscht. Erschienen ist ein ergiebiges Bilderbuch für ein schaulustiges, Newton zumindest in diesem Punkt ebenbürtiges Publikum.
„Ich bin ein professioneller Voyeur“, bekannte Newton, der vor seiner Flucht aus Nazi-Deutschland bei der avantgardistischen Modefotografin Yva in die Lehre gegangen war. Wer sich durch das chronologisch nach Jahrzehnten geordnete Lebenswerk blättert, erhält eine Ahnung, wie er tickte.
Die Essays von Harder und von Philippe Garner, einem Pionier auf dem Gebiet der Fotoauktionen und Vorstandsmitglied der Newton Foundation, bringen dem Leser einen Fotografen nahe, der – inspiriert von der Kunst, Kulturgeschichte und Zeitgeschehen - eigentlich ein Geschichtenerzähler war und der zu diesem Zweck die Grenzen von Genre und Geschmack unablässig dehnte.

Das Frühwerk entspricht einer konventionellen Auftragserfüllung, doch das Experimentelle und Avantgardistische seines Hauptwerks blitzt gelegentlich schon auf.
Wo endet die Realität, wo beginnt die Illusion? Ist das 1970 für die amerikanische Zeitschrift Essence fotografierte Farbbild, auf dem fünf schwarze Frauen, Parolen rufend auf den Betrachter zulaufen, ein Modefoto oder dokumentierte Newton wie ein Bildjournalist eine spontane Demonstration?

Matthias Harder, Philippe Garner: Helmut Newton. Legacy
Verlag Taschen, Köln 2021
424 Seiten
80 Euro
Könnte es sich bei der eleganten, selbstbewussten Raucherin, die er 1975 für die französische Vogue im nächtlichen Marais-Viertel im schmal geschnittenen Hosenanzug von Yves Saint-Laurent fotografierte, auch um eine Prostuierte handeln?
Als Newton 1976 sein erstes Buch, „White Women“, auf den Markt brachte, gesellte er der Androgynen im Hosenanzug ein unbekleidetes Modell zur Seite. Ein Tabubruch, den er sich 1975 in einem Magazin noch nicht leisten konnte.
Erst 1981 erscheint Newtons bekannte Serie „Naked and Dressed“ in der italienischen und französischen Vogue und parallel in seinen Bildbänden. Solche Zusammenhänge, auf die Harder nur in exemplarischen Beispielen im Text eingeht, hätte man auch gern beieinander abgebildet gesehen.

„Ich bin ein professioneller Voyeur“, bekannte Newton dem Magazin Playboy gegenüber.
Was die Leser nicht erfahren, ist eine genauere Betrachtung, wie Newton und seine Galeristen mit seinem Werk auf dem Kunstmarkt agierten, ob und wie kontrolliert und planvoll sie dabei verfuhren. Dazu hätte man sich einen Anhang mit grundlegenden Werkangaben, Abzugstechniken und Auflagenhöhen ebenso gewünscht wie präzise, über die Jahresangabe und den Zeitschriftentitel hinausgehende Angaben zu den Verwendungszusammenhängen.
Und so trifft es Harder auf den Punkt, wenn er das neue Buch nur als „eine weitere Annäherung an das vermutlich meistpublizierte fotografische Werk überhaupt“ bezeichnet.
„Helmut Newton. Legacy“. Hg. Matthias Harder, Taschen Verlag, Köln 2021, Hardcover, 424 Seiten, Deutsch, Englisch, Französisch, 80 Euro
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