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Kolumne: Business ClassDas Gute an der Krise

Die Coronakrise bietet dem Management auch gewisse Vorteile – etwa bei der Begründung von Stellenstreichungen oder Werksschließungen.Martin Suter 23.05.2020 - 11:00 Uhr

Das Handelsblatt Magazin veröffentlicht einige seiner neuen „Business Class“-Kolumnen exklusiv.

Foto: action press

„Lieber Jack“, schreibt Alfred Rieger, der CEO der Cavandinag, seinem Chairman, Jack Kessler, „Lieber Jack, ganz unter uns, diese Coronakrise hat auch ihr Gutes.“

„Gutes“?, überlegt er. Ist das vielleicht etwas zu überspitzt formuliert? Besser: „...nicht nur Schlechtes“? Oder: „...bietet auch gewisse Vorteile“? Oder: „...hat auch ihre positive Seite“? Er beschließt, am Schluss nochmals auf den Anfang zurückzukommen, und belässt es vorläufig bei „Lieber Jack, ganz unter uns, diese Coronakrise hat auch ihr Gutes.“

Dann kommt er zum Punkt. Sein Chairman mag keine langen Vorreden.

„Sie gibt uns nämlich den perfekten Vorwand, die geplanten Outsourcing-Measures, die Schließung des Werkes Streibenach und den Stellenabbau von 320 P durchzuziehen. Die Maßnahmen werden sich nahtlos in die arbeitspolitischen Maßnahmen vor dem Hintergrund der Krise einfügen.“

„Nahtlos“? Oder besser „smoothly“? Jack Kessler neigt zu Anglizismen.

Rieger steht vom Schreibtisch auf, öffnet das Fenster und atmet die frühlingshafte Luft ein. Sie duftet nach dem Flieder, der im Garten in voller Blüte steht. Im Pool steht ein Arbeiter und reinigt mit dem Kärcher den Pool für den Sommerbetrieb. Rieger schließt das Fenster, geht zurück zum Schreibtisch seines Homeoffice und macht sich wieder an die Arbeit. „Nahtlos“ oder „smoothly“?

Das Skype-Signal erklingt. Richtig, die Videokonferenz mit Pfeifer und Kröger, dem Head Human Resources und dem Leiter Werk Streibenach. Es geht um den von Kröger seit längerem als dringlich beantragten Ausbau der Produktionslinie II und die damit verbundene Personalaufstockung. Ein Projekt, das Rieger gedanklich in Gänsefüßchen setzt, so illusorisch wie es inzwischen geworden ist.

Er nimmt die Videoanrufe entgegen. Pfeifer sitzt vor einem Regal mit verschiedenfarbigen Ordnern, auf deren Rücken sich Buchstabencodes befinden, die Rieger nicht entschlüsseln kann. Ein paar Kindergartenbasteleien stehen davor. Am linken oberen Bildrand ragt der Arm eines Messingleuchters herein, was auf ein Wohnzimmer schließen lässt. Pfeifer trägt ein Seidenfoulard im offenen Hemdkragen und einen zweireihigen blauen Blazer mit Goldknöpfen. Er hat den Lockdown dazu genutzt, sich einen Schnurrbart stehen zu lassen und sieht damit ein wenig aus wie eine Figur aus einer Rosamunde-Pilcher-Folge.

Kröger befindet sich nicht im Homeoffice, das Werk Streibenach leistet Kurzarbeit. Er scheint mit Blick auf die große Fensterfront des Sitzungszimmers zu sitzen. Sein Bildausschnitt ist mehrere Stufen heller als der von Pfeifer und leicht überstrahlt. Im Hintergrund ist eine etwas traurige Zimmerlinde zu erkennen. Er trägt ein zu eng gewordenes Jackett und eine Krawatte, deren Knoten heruntergerutscht ist und den obersten Hemdenknopf zeigt. Eine feine Rauchsäule kringelt sich von unten rechts ins Bild.
„Guten Tag, meine Herren“, sagt Rieger aufgeräumt, „kommen wir gleich zur Sache.“ Auch Rieger mag keine Vorreden.

Kröger ist zwar gut vorbereitet, aber ungeübt im Umgang mit Skype. Er hält mit der Linken den Plan der beantragten Produktionslinie vor das kleine Kamera-Auge, erklärt ihn mit dem rechten Zeigefinger und erläutert die berechnete Produktionssteigerung.
Nach kürzester Zeit unterbricht ihn Rieger: „Ich sehe nichts und verstehe noch weniger. Öffnen Sie diesen Plan doch einfach auf dem Bildschirm, und geben Sie uns Zugang darauf.“ Es klingt ein bisschen schroff.

Auf dem Bildschirm sieht Rieger das verständnislose Gesicht von Kröger und das grinsende von Pfeifer.

Jetzt zeigt sich wieder einmal, dass Rieger nicht umsonst der CEO der Cavandinag ist: Er zückt sein Smartphone und macht ein Video davon, wie er auf „Bildschirm übertragen“ klickt und ihn freigibt. Dann schickt er das kurze Video an Kröger mit dem Kommentar: „So macht man das.“

So macht es dann Kröger auch und präsentiert danach flüssig den Ausbau der Produktionslinie II des Werks Streibenach. Anschließend übergibt er das Wort an Pfeifer, der den damit verbundenen Personalausbau A (plus elf Personen) und B (plus neun Personen) erklärt.

Rieger nimmt beides mit zustimmendem ernstem Nicken zur Kenntnis. Und denkt: Wenn die wüssten ...

Während Pfeifers Ausführungen kann Kröger in aller Ruhe den noch immer freigegebenen Bildschirm seines CEOs studieren und eine Mail lesen. Sie beginnt mit „Lieber Jack, ganz unter uns, diese Coronakrise hat auch ihr Gutes.“

Die Management-Kolumne „Business Class“ war Martin Suters Entree in die Karriere als Schriftsteller. Nach 13 Jahren Pause ließ er sie 2019 wieder auferstehen – mit den Mitteln der Jetztzeit: Crowdsourcing, Social Media und Paid Content. Das Handelsblatt Magazin druckt einige der neuen Kolumnen des Bestsellerautors exklusiv ab. Mehr von ihnen und andere Pretiosen finden Sie auf martin-suter.com, wo man sich derzeit auch for free anmelden kann.

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