Kolumne: Business Class: Kellers Ich auf dem E-Scooter
Das Handelsblatt Magazin veröffentlicht einige seiner neuen „Business Class“-Kolumnen exklusiv.
Foto: action pressEs ist zwar nicht gerade eine Pioniertat, aber als Nachahmer fühlt sich Bertram Keller trotzdem nicht. Er findet das Timing für die Anschaffung äußerst gut gewählt. Der E-Scooter als Fortbewegungsmittel für den Businessman besitzt bereits eine gewisse Akzeptanz, ohne jedoch Mainstream zu sein. Es gilt nach wie vor als cool, im Business-Anzug mit wehender Krawatte im Geschäftszentrum zwischen Fußgängern, Radfahrern, Automobilisten und öffentlichem Verkehr zu seinem Job zu fahren. Einem Job, der – das wird man seinem Outfit trotz des verkehrstechnischen Understatements ansehen – ein wichtiger sein muss.
Es ist tatsächlich ein wichtiger, aber natürlich nur eine Zwischenstation zu einem noch wichtigeren. Wie jeder Job, den Keller bisher inne- und jede Stufe, die er bisher erklommen hatte: Alles hatte er mit der gleichen Mischung aus Innerem und Äußerem erreicht.
Unter Innerem versteht er ein gewisses Grundwissen, angereichert mit etwas Fachwissen, einer Portion Motivation oder Ehrgeiz, wie man früher sagte, und einer ganzen Menge Selbstvertrauen.
Zum Äußeren zählt er alles, was dazu bestimmt ist – und zwar von ihm selbst –, dieses Innere zur Geltung zu bringen. Also sein Styling, sein Lifestyle und seine Life-Partnerin Linda. Natürlich alles sehr sorgfältig austariert.
Diese Kombination aus Innerem und Äußerem pflegt er unter dem Sammelbegriff Ich zusammenzufassen. Von nun an wird auch sein E-Scooter zu diesem Ich gehören.
Die erste Frage, die bei dessen Evaluation zu beantworten ist, betrifft die der Ästhetik. Und beim E-Scooter hängt diese nach seinem persönlichen Stilempfinden stark von der Bereifung ab. Vollgummi oder Luft? Er neigt instinktiv zu Luft.
Bedeutend länger beschäftigt ihn die Frage: Road oder Offroad? Er hat zwar nicht im Sinn, seinen E-Scooter off the road zu benutzen, aber das hatte er auch nicht bei der Evaluation seiner Autos. Und trotzdem hatte er sich in den letzten 15 Jahren stets für einen SUV entschieden.
Diese Vorliebe für das Geländegängige führt dann auch logisch zu Offroad/Luft. Und das dann zwingend zu Federung/Scheibenbremsen/Gewicht.
Diese Konsequenz wiederum führt zu einer zweiten, sozusagen konzeptionellen: Ein schwergewichtiges Gerät verbietet quasi die Kombination ÖV/E-Scooter. Es ist praktisch unmöglich, einen 17 Kilo schweren Scooter in die Straßenbahn zu stemmen, ohne dass die persönliche Eleganz darunter leidet.
Das bringt Keller auf ein überraschend innovatives Konzept: Er mietet eine Garage am Rand der Innenstadt, stellt dort seinen E-Scooter ein und benutzt zwischen ihr und dem Vorort, in dem er wohnt, seinen SUV. Die knapp zwei Kilometer zwischen Garage und Büro wird er jeweils mit dem E-Scooter bewältigen.
So. Nun wäre noch das persönliche Styling zu adaptieren:
Wichtig für den E-Scooter-Businessman sind vor allem die wehenden Rockschöße. Nichts vereinigt Eleganz und Dynamik effektiver als das Flattern der Rockschöße eines gutgeschnittenen Anzugs im Fahrtwind. Diese Erkenntnis zwingt Keller, bei seinen Sakkos, die er bisher aus Prinzip ohne Seitenschlitze hatte anfertigen lassen, die unteren Seitennähte um 17 Zentimeter auftrennen zu lassen.
Auch das möglichst waagerechte Fliegen der Krawatte zwingt Keller zu Investitionen. Die breiten, gefütterten, die er bevorzugt, sind zu schwer, um bei nur 20 km/h Höchstgeschwindigkeit richtig abzuheben. Er muss auf leichte, luftig-duftige Seidenmodelle umsteigen.
Die letzte Anschaffung, bevor er sich zum ersten Mal in den Stadtverkehr wagt, ist eine Umhängetasche. Für seinen geliebten abgewetzten Prada-Aktenkoffer hat er auf dem E-Scooter natürlich keine Hand mehr frei.
So durchgestylt fährt Bertram Kellers Ich mit wehenden Rockschößen und Krawatte im morgendlichen Stoßverkehr zum ersten Mal zur Arbeit. Es gelingt ihm, die bewundernden Blicke der Passanten zu ignorieren und sie dennoch zur Kenntnis zu nehmen.
Es gelingt ihm, die Übergänge Gehsteig/Fahrradweg/Straße elegant zu meistern.
Es gelingt ihm, die Tramschienen zu meiden.
Es gelingt ihm, den Fußgängern, Radfahrern und E-Scootern auszuweichen.
Doch es gelingt ihm nicht, die rechte Hand vom Lenker zu nehmen und dem Lieferwagen hinter ihm seinen Spurwechsel korrekt und sturzfrei anzuzeigen.
Kellers Äußeres eignet sich bis zur Entlassung aus der Rehabilitation nicht mehr so recht dafür, sein Inneres zur Geltung zu bringen.
Die Management-Kolumne „Business Class“ war Martin Suters Entree in die Karriere als Schriftsteller. Nach 13 Jahren Pause ließ er sie 2019 wieder auferstehen – mit den Mitteln der Jetztzeit: Crowdsourcing, Social Media und Paid Content. Das Handelsblatt Magazin druckt einige der neuen Kolumnen des Bestsellerautors exklusiv ab. Mehr von ihnen und andere Pretiosen finden Sie auf martin-suter.com, wo man sich derzeit auch for free anmelden kann.