Buchkritik: Dieses Buch eignet sich nicht als Agenda für die Ampel
Das Verhältnis zwischen Russland und der EU ist stark gestört.
Foto: action pressAls eine „Streitschrift“ möchte der einstige Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg und vormalige Bundeswissenschaftsminister Klaus von Dohnanyi sein Buch „Nationale Interessen“ verstanden wissen, das seit Wochen auf der Sachbuch-Bestsellerliste des „Spiegels“ steht.
Der Wunsch des 93-jährigen sozialdemokratischen Politikers könnte in Erfüllung gehen. „Nationale Interessen“ ist das Werk eines belesenen Autors, der vor pointierten Aussagen nicht zurückschreckt, ja es geradezu darauf anzulegen scheint, Widerspruch zu erregen.
Was den einen großen Schwerpunkt seines Buches, die inneren Probleme der Europäischen Union, angeht, trägt er freilich so viele einleuchtende Argumente vor, dass ihm breite Zustimmung ziemlich sicher ist.
Dohnanyi hat recht, wenn er auf der Tatsache beharrt, dass sich nur die Mitgliedstaaten der EU auf eine unmittelbare demokratische Legitimation durch das Volk berufen können, nicht aber der Staatenverbund selbst.
Er hebt die unterschiedlichen geschichtlichen Prägungen der europäischen Nationen hervor, die ein unverwechselbares Merkmal des alten Kontinents sind, und er verweist zu Recht darauf, dass die Forderung nach einem europäischen Bundesstaat, wie sie im Koalitionsvertrag der Ampelparteien steht, außerhalb Deutschlands kaum Unterstützung findet.
Für den von manchen deutschen Intellektuellen erhobenen Ruf nach einem „postnationalen“ Europa, in dem die Nationen früher oder später aufgehen sollen, gilt das erst recht.
Strittig hingegen ist vieles von dem, was der Autor zum anderen Schwerpunkt seines Buches, der Rolle Deutschlands und Europas in der Welt, zu sagen hat. Dohnanyi stellt sich als „enger Freund und Bewunderer der Vereinigten Staaten von Amerika“ vor, aber er tritt dann durchgängig als ihr Ankläger auf.
Dem „christlich-europäischen Russland“ gegenüber bringt er hingegen viel Verständnis auf, wobei zu bedenken ist, dass er sein Buch im November 2021, drei Monate vor Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022, abgeschlossen hat.
Den USA hält er zugute, dass sie nach 1945 als westliche Hegemonialmacht Frieden in Europa ermöglicht haben. Doch meist brachten sie laut Dohnanyi Unheil über Europa. Auf Seite 124 heißt es lapidar: „Jalta 1945 war, wie Versailles 1919, für Europa eine folgenschwere US-amerikanische Fehlentwicklung.“ Gab es da nicht noch andere Beteiligte?
Plädoyer auf eine modifizierte Neuauflage von Großmachtpolitik
Die schwersten Vorwürfe treffen die Russlandpolitik der USA seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Osterweiterung des Atlantischen Bündnisses über die Ostgrenze der DDR hinaus erscheint als verhängnisvolle Folge eines amerikanischen Wortbruchs.
Doch erstens hat die Sowjetunion nie auf der schriftlichen Fixierung entsprechender mündlicher Zusagen westlicher Politiker und Diplomaten aus dem Jahr 1990 bestanden. Und zweitens waren es nicht die USA und ihre Verbündeten, die in den Neunzigerjahren als Erste auf eine Osterweiterung der Nato drangen, sondern die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die sich durch das unkalkulierbare Russland bedroht fühlten.
Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 sieht Dohnanyi „im Zusammenhang mit der beabsichtigten Aufnahme der Ukraine in die Nato“. In Wirklichkeit war es die Annäherung der Ukraine an die EU in Gestalt eines Assoziierungsabkommens, der Putin für alle Zeit einen Riegel vorschieben wollte.
Ein Nato-Beitritt der Ukraine stand 2013/14 ebenso wenig bevor wie heute. Der einzige amerikanische Präsident, der sich für diese Option starkgemacht hatte, war George W. Bush. Er stieß damals, 2008, auf den Widerspruch Deutschlands und Frankreichs, deren Position sich seitdem nicht geändert hat.
So ernst Dohnanyi die Sicherheitsbedürfnisse Russlands nimmt, so wenig Aufmerksamkeit widmet er denen der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, die heute dem westlichen Verteidigungspakt angehören. Dabei war es doch deren Wunsch, das Joch der in Jalta von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs beschlossenen Teilung Europas in einen freien westlichen und einen unfreien östlichen Teil abzuschütteln, der letztlich zu den friedlichen Revolutionen von 1989/90 führte.
Mit den Anträgen auf Mitgliedschaft in der Nato machten diese Staaten von dem Recht auf freie Bündniswahl Gebrauch, das ihnen die Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 und dann erneut die von Gorbatschow namens der Sowjetunion unterzeichnete Charta von Paris vom November 1990 zusicherten.
Dohnanyi spricht zwar an einer Stelle beiläufig davon, dass Polen wiederholt „Opfer der deutsch-russischen Interessenpolitik“ geworden sei. Er räumt auch ein, dass „Entspannung am Ende nur mit Zustimmung der osteuropäischen Staaten erreicht werden kann“. Aber letztlich läuft sein Plädoyer auf eine modifizierte Neuauflage von Großmachtpolitik hinaus.
Was gut ist für jenes Gebiet, das Autoren der „Konservativen Revolution“ nach dem Ersten Weltkrieg „Zwischeneuropa“ nannten, soll im Zweifelsfall weniger von den primär betroffenen Staaten als von anderen Mächten, unter ihnen Russland und Deutschland, entschieden werden.
Es ist ein ausgeprägt nationalkonservatives, um nicht zu sagen: deutschnationales Geschichtsbild, auf das der Autor seine Thesen stützt. Er beruft sich auf die von dem im wilhelminischen Deutschland viel gelesenen britischen Geografen Harold J. Mackinder, einem „Geopolitiker“ avant la lettre, entwickelte Theorie von der eurasischen „pivot area“ mit Russland als „heartland“.
Wer diese Landmasse beherrsche, könne das Weltgleichgewicht zu seinen Gunsten verändern. Dohnanyi leitet daraus die geopolitische Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen Europa und Russland zwecks Selbstbehauptung gegenüber den USA und China ab.
In seinen historischen Rückblenden stellt Dohnanyi das kaiserliche Deutschland fast schon als Opfer des britischen Imperialismus dar. Dem Vereinigten Königreich gibt er ein mindestens ebenso hohes Maß an Schuld am Ersten Weltkrieg wie Deutschland; letztlich seien beide Mächte in diesen Krieg „hineingestolpert“.
Hitler kam laut Dohnanyi nicht etwa deswegen an die Macht, weil es im Deutschland der Weimarer Republik massive Vorbehalte gegenüber der erst spät, im Zuge der Niederlage im Ersten Weltkrieg, eingeführten westlichen Demokratie gab, sondern nur infolge der Weltwirtschaftskrise. Dass die von der Großen Depression gleichfalls hart getroffenen USA und Großbritannien ganz anders auf die Krise reagierten, nämlich durch eine Reform ihrer Demokratie, bleibt ungesagt.
Absage an das Selbstverständnis der EU als Wertegemeinschaft
Die viel beschworene transatlantische „Wertegemeinschaft“ hält Dohnanyi für eine aus amerikanischen Interessen geborene Schimäre. Er ruft die Europäer auf, sich einer geopolitischen Konfrontation der USA mit China und ihrer „unversöhnlichen Haltung gegenüber Russland“ zu widersetzen. Die Nato will er, wenn sie sich stärker als bisher um Entspannung bemüht, beibehalten. Aber das Endziel bleibt eine „allianzneutrale Politik“ Europas.
Dohnanyi ermahnt die EU, von ihrem Beharren auf rechtsstaatlichen Prinzipien gegenüber Ungarn und Polen abzulassen, und äußert demonstratives Verständnis für Viktor Orbans eigenwillige Interpretation von Rechtsstaat und Demokratie. „Es ist ein Irrtum zu glauben, Europa werde durch Recht und Gesetz zusammengehalten“, schreibt er. „Europa kann nur durch Politik zusammengehalten werden.“ Deutlicher lässt sich eine Absage an das Selbstverständnis der EU als Wertegemeinschaft kaum formulieren.
Dohnanyis krude Version von „Realpolitik“ hat einen ironischen Effekt: Er unterminiert damit die Überzeugungskraft seiner berechtigten Kritik am technokratisch abgehobenen, historisch unsensiblen Denken und Handeln vieler professioneller Europapolitiker.
Er spricht mit alledem nur für sich, nicht für die Partei, der er seit 65 Jahren angehört. Er beruft sich zwar gern auf Willy Brandt. Dessen (eng mit den westlichen Verbündeten abgestimmte) Ostpolitik wurde aber nur deswegen zu einem großen Erfolg, weil die damalige Sowjetunion, im Gegensatz zu Putins Russland, nicht an einer Umwälzung der Machtverhältnisse in Europa, sondern an der Bewahrung ihres Besitzstands interessiert war.
Mit etwas größerem Recht bemüht Dohnanyi Egon Bahr als Zeugen für seine Thesen: Der Chefarchitekt der sozialdemokratischen Ostpolitik entwickelte sich, je älter er wurde, desto stärker zu einem linken Nationalisten.
Was zum Widerspruch herausfordert
Dohnanyi betont zu Recht, dass es legitime nationale Interessen Deutschlands gibt. Was zum Widerspruch herausfordert, ist seine Interpretation deutscher Interessen, die stark an konservative Denkmuster der Zeit vor 1933 erinnert.
Dass ein solches Denken nicht nur auf der politischen Rechten, etwa bei Alexander Gauland, und auf der postkommunistischen Linken, wie bei Sahra Wagenknecht, fortlebt, sondern bis vor wenigen Tagen auch von Teilen der Sozialdemokratie gepflegt wurde, dafür ist Dohnanyis Buch nicht der einzige, aber ein besonders markanter Beleg.
Wie viel von diesem Politikverständnis die tiefe historische Zäsur des 24. Februar 2022 überdauern wird, bleibt abzuwarten. Als Agenda für die künftige deutsche Politik taugt Dohnanyis Buch jedenfalls nicht. Seit der historischen Sitzung des Deutschen Bundestags vom Sonntag, den 27. Februar 2022, gibt es keinen Zweifel mehr, dass dies der Standpunkt aller staatstragenden Parteien der Bundesrepublik Deutschland ist.