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BuchkritikWo bleibt die Provokation, Michel Houllebecq?

Das neue Buch des Starautors ist gut – und enttäuscht dennoch. In „Vernichten“ geht es um alles und nichts: Polittheater, Cyberterror, Familiendrama und Krebstod.Tanja Kewes 15.01.2022 - 10:10 Uhr Artikel anhören

Der Protagonist Paul Raison ist Mitarbeiter des Präsidentschaftskandidaten in Frankreich.

Foto: imago images/photothek

Der Titel klingt gewaltig und vielversprechend. „Vernichten“ heißt das neue Buch von Michel Houllebecq. Auch der Erscheinungstermin zum Jahresauftakt und der in der deutschen Übersetzung mehr als 600 Seiten starke Umfang schüren die sowieso schon hohen Erwartungen.

Doch das neue Werk des französischen Starautors enttäuscht. Houllebecq arbeitet sich an (zu) vielen Themen ab: Er bietet Polittheater und Familiendrama, behandelt Cyberterror und Katholizismus, analysiert Beziehungskrisen und Sexualleben, kritisiert Gesundheitssystem und Medizin.

Darunter leidet die Spannung. Sie geht in den sieben Kapiteln immer mal wieder verloren. Seine vernichtende Gesellschaftskritik ist umfassend, ja, aber nicht überzeugend. Denn seine Figuren sind keine hoffnungslosen Fälle. Sie haben Potenzial.

Der Protagonist Paul Raison ist ein enger Mitarbeiter des französischen Wirtschafts- und Finanzministers namens Bruno Jurge. Dieser hat es geschafft, die französische Wirtschaft wieder an die Weltspitze zu führen, und gilt deshalb als Präsidentschaftskandidat. Doch nun bedrohen Terroristen sein Leben. Sie inszenieren in einem Video seine Köpfung.

Die Aufklärung dieses und anderer Terroranschläge misslingt der Hauptfigur, und auch insgesamt muss der „vernünftige“ Raison nach einem Skandal seine Karriere mit dem vorzeitigen Ruhestand beenden. Doch er findet die (geistige und körperliche) Liebe zu seiner Ehefrau Prudence wieder. Am Ende wartet auf ihn ein unheilbarer Krebs.

Menschenfreundlicher, aber auch etwas gewöhnlicher.

Foto: dpa

Die Rahmenbedingungen für das Geschehen sind klar, leicht zu dechiffrieren. Zum Schlüsselroman wird „Vernichten“ deshalb nicht. Houllebecq schreibt das Jahr 2027, wenn in Frankreich wieder Präsidentschaftswahlen sein sollen. Der dann amtierende und populäre Präsident (Emmanuel Macron) darf nicht noch einmal antreten, weil er schon zwei Amtszeiten hinter sich hat.

Zu einer Art Platzhalter-Kandidaten wird deshalb der erfolgreiche Finanzminister (Bruno Le Maire) erkoren. Am Ende obsiegt das bürgerlich-liberale Lager (einmal mehr) die Rechtsnationalen (um Marine Le Pen und Eric Zammour). So weit, so gut im Realen, so langweilig im Fiktionalen.

Sein Gespür für zeitgenössische Themen hat Houllebecq in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum umstrittenen Star-, vielleicht sogar Kultautor des westlichen Europas gemacht. Er schien gesellschaftliche Strömungen und politische Spannungen nicht nur früh zu erkennen, er konnte diese auch stilistisch meisterhaft umsetzen. Seine Themen, seine Sprache und auch seine Inszenierung setzten Maßstäbe. Er spiegelte, karikierte, überhöhte, verzerrte und dramatisierte das Zeitgeschehen, und wurde dadurch auch selbst zur politischen Figur.

Kein Schlag ins Kontor

In seinem am 7. Januar 2015 erschienenen Roman „Unterwerfung“ hatte er den Niedergang der französischen Gesellschaft und das Erstarken des politischen Islams beschrieben. Das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ widmete dem Schriftsteller daraufhin sein Titelbild.

Houllebecq sei der Weise, der in die Zukunft blicke. Eine Karikatur mit Folgen: Am Erscheinungstag stürmten islamistische Terroristen die Redaktion in Paris und töteten elf Menschen. Houllebecq brach daraufhin die Promotion für seinen Roman ab.

Michel Houllebecq: Vernichten. Übersetzung: Stephan Kleiner, Bernd Wilczek. DuMont Buchverlag Kulmbach 2022 624 Seiten 28 Euro Foto: Handelsblatt

Mit seinem 2019 erschienenen Roman „Serotonin“ knüpfte Houllebecq an seine Erstlinge „Ausweitung der Kampfzone“, „Elementarteilchen“ und „Plattform“ an, in Thema und Stil. Was blieb ihm nach dem „Erfolg“ von Unterwerfung auch anderes übrig?

„Serotonin“ behandelt das Leben eines alten, weißen Mannes zwischen Depression und Selbstmord. Ein Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt ist der Sex seiner japanischen Frau mit drei Hunden. Der Roman, benannt nach einem natürlichen Glückshormon, bot vor allem Menschenverachtung und Traurigkeit.

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Nun also „Vernichten“. Es ist ein gutes, vielleicht sehr gutes, und empfehlenswertes Buch. Doch es ist kein Schlag ins Kontor, wie man es vom Enfant terrible der französischen Literatur gewohnt ist.
Michel Houllebecq erscheint nicht mehr als der junge Wilde und irritierende Provokateur. Mit 65 Jahren und diesem neuen Werk ist er zum Altmeister geworden, umfassender, abgeklärter, menschenfreundlicher und damit leider auch etwas gewöhnlicher.

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