Buchrezension: Kritik an Stadtplanung: „Wie das Ausstechen von Weihnachtsplätzchen“
Der Autor ist Architekt und Wirtschaftswissenschaftler. In seinem Buch kritisiert er sowohl die Architektur als auch die heutige Gesellschaft.
Foto: Günther MoewesBerlin. Aristoteles hat die Beziehung zwischen Körper und Seele einmal mit einem Gleichnis erklärt. Demnach zeichnet ein Lebewesen nicht seine Erscheinung aus, sondern sein Wirken auf seine Umwelt. Analoges müsste auch für die Architektur und für unsere Lebenswirklichkeit gelten – das zumindest ist der Anspruch, den Günther Moewes in seinem Buch „Weder Hütten noch Paläste“ vertritt.
Das Werk, das der Verlag ein „Kultbuch für ökologische Architektur“ nennt, ist bereits 1995 erstmals erschienen. Nachdem es lange vergriffen war, hat es der Frankfurter Nomen Verlag im Herbst neu aufgelegt. Zum Glück, möchte man meinen. Denn sein Inhalt erscheint heute aktueller denn je.
Moewes‘ „Streitschrift“ fordert ein neues architektonisches Bewusstsein ein. Konkret liest sich das so: „Bessere Architektur, intaktere Städte und Landschaften entstehen nicht durch Ästhetikstudium, Umweltverträglichkeitsprüfungen oder noch so intelligente Pilotprojekte, sondern erst, wenn die Wirtschaftsweise verändert worden ist, wenn wir die Existenzberechtigung von der Arbeit abgekoppelt haben.“ Dem emeritierten Professor vorzuwerfen, nicht grundsätzlich genug zu argumentieren, ist nachgerade absurd. Stückwerk ist seine Sache nicht.
Der Schlüsselbegriff der Moewes’schen Theorie lautet Entropie. Er basiert auf dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, dem zufolge in einem geschlossenen System alle Vorgänge nur in einer Richtung erfolgen: von Zuständen höherer zu Zuständen niedrigerer Ordnung.
In solchen Systemen aber, zu denen auch die Erde zählt, entsteht eine Zielenergie oder -materie nur durch gleichzeitige, unbeabsichtigte Entropie an anderer Stelle. Ein Beispiel aus der Industriegesellschaft: Die Kraft einer Dampfmaschine kann nur durch eine ungleich höhere Produktion sinnloser Abfallwärme erzeugt werden.
„Was nützt es, wenn wir immer schneller an jeden Punkt der Welt gelangen können, dort aber überall das gleiche Einheitsgemisch aus Konsum-, Schlaf-, Tourismus- und Fast-Food-Architektur vorfinden?“, fragt Günther Moewes in seinem Buch.
Foto: IMAGO/Arnulf HettrichDa unser ganzes Wirtschaften so – und nur so – funktioniert, stehen wir offenkundig vor einem gravierenden Problem. Genau das will Moewes drastisch vor Augen führen. Zugleich ruft er dazu auf, das Ruder endlich herumzuwerfen. Dabei geht es dem Autor nicht um die Architektur allein. Vielmehr will er eine fundamentale Weichenstellung.
Er kritisiert Wachstumsparadigma und „Beschäftigungsstaat“, glaubt im Funktionalismus einen kranken Zahn der Gesellschaft auszumachen. Rückbezogen auf die Architektur: Dieser führe dazu, dass Stadtplanung „wie das Ausstechen von Weihnachtsplätzchen“ gedacht werde: die Gebäude als „die gemeinten Sterne, Herzen und Monde“, der Zwischenraum als „das Übriggebliebene, Zufällige, (...) quasi der Abfall“.
Rhetorische Fragen setzen den Leser geschickt in die Spur: „Was nützt es, wenn wir immer schneller an jeden Punkt der Welt gelangen können, dort aber überall das gleiche Einheitsgemisch aus Konsum-, Schlaf-, Tourismus- und Fast-Food-Architektur vorfinden?“
Dabei könne das Umlenken so schwierig nicht sein. Zumal die „rationalen, wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse darüber, wie ökologische Architektur aussehen müsste„, längst vorlägen: „Das wirkliche ökologische Bauen“ sei „dem ‚konventionellen‘ Bauen des frühen 20. Jahrhunderts ähnlicher als der heutigen Meinungsarchitektur“. Das, was heute als nachhaltige Architektur reüssiere, versuche dagegen lediglich den Eindruck des Umweltgerechten zu erwecken – durch Vermischung mit Grün und Natur.
Was Moewes anspricht, ist zwar keineswegs neu, wird dafür jedoch in ungewohnten Zusammenhängen gesehen. Seine mitunter erfrischende Polemik verhilft so mancher Einsicht zu mehr Nachdruck. Dabei mag die ein oder andere Forderung schon mal übers Ziel hinausschießen: dass etwa die Ballungsräume aufzuteilen seien in „überschaubare Einheiten etwa von der Größe der alten Renaissancestädte, in denen die umgebende Landschaft von jedem Punkt aus fußläufig oder mit dem Rad zu erreichen wäre“. Das erscheint dann doch einigermaßen nostalgisch.
Dennoch sei das Buch dringend empfohlen. Mag es zu Zeiten seiner Erstauflage noch als Fundamentalopposition dahergekommen sein: Aus dem streitbaren Pamphlet ist inzwischen eine veritable Denkschrift geworden. Denn die Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts geben dem Autor auf drastische Weise recht.