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Buchtipp: „Gleichgewicht der Macht“ Ein schwacher Staat kann genauso schlecht sein wie ein despotischer

Im neuen Buch der Star-Ökonomen James A. Robinson und Daron Acemoglu geht es um eine zentrale Frage: Wie viel Staat ist eigentlich notwendig?
06.02.2020 - 16:08 Uhr Kommentieren
Die USA als mustergültige Demokratie? Nicht wirklich, sagen James A. Robinson und Daron Acemoglu. Quelle: E+/Getty Images
US-Bürger vor dem Kapitol in Washington

Die USA als mustergültige Demokratie? Nicht wirklich, sagen James A. Robinson und Daron Acemoglu.

(Foto: E+/Getty Images)

Washington Brillanter Geist und Teamfähigkeit sind Charakteristika, die nicht zwingend kompatibel sind. Das Gegenteil ist vermutlich richtig. Großautoren wie Paul Krugman, Francis Fukuyama oder Thomas Piketty kommen nur außerordentlich selten auf die Idee, gemeinsam mit einem Kollegen ein Buch zu schreiben.

Bei James A. Robinson und Daron Acemoglu ist das anders. Die Wissenschaftler, der eine lehrt Politologie in Chicago, der andere Wirtschaftswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, veröffentlichen nicht nur gemeinsam ihre Arbeiten und Papiere – sie haben die Teamarbeit sogar zu ihrem Markenkern gemacht. 

Und es funktioniert. Mit „Warum Nationen scheitern“ schrieben die Autoren bereits im Jahr 2012 einen Weltbestseller zusammen. Jetzt erschien ihr aktuelles Buch mit dem Titel: „Gleichgewicht der Macht“. Auch dieses Werk – 700 Seiten lang – verspricht ein Bestseller zu werden.

Was ist das Erfolgsgeheimnis des Duos? „Wie funktioniert die Zusammenarbeit? „Wir arbeiten seit 25 Jahren zusammen, da gibt es dieses gegenseitige fast blinde Verständnis“, sagt Robinson. 50 gemeinsame Veröffentlichungen habe es bereits gegeben. Das Muster der Zusammenarbeit sei immer ähnlich: „Einer von uns schreibt einen Entwurf für ein Konzept, leitet es dem anderen weiter, es gibt eine Debatte, dann mögliche Korrekturen.“ Die Idee für das aktuelle Buch habe es schon seit Langem gegeben.

Drei Jahre haben Robinson und Acemoglu gebraucht, um es aufzuschreiben. Das Werk trifft den Nerv der Zeit. Welche Frage könnte in Zeiten Donald Trumps, Boris Johnsons, Viktor Orbáns – wo eigentlich soll die Liste enden? – aktueller sein als die nach der Verfasstheit westlicher Demokratien?

Was macht die Stabilität oder eben Instabilität des Systems aus, auf das der Westen so stolz ist, oder besser, war? Denn das Vertrauen in die Demokratie, von der manch Intellektueller in geradezu ahistorischer Hybris annahm, sie sei das natürliche Endziel durch Vernunft geprägter Geschichte, ist tief erschüttert.

Robinson und Acemoglu haben sich dieser Illusion nie hingegeben. Frei von jeglicher Ideologie liefern sie eine ebenso kluge wie kenntnisreiche Analyse des komplexen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, die sich auf empirische Erkenntnisse aus der Historie stützt – und zwar von altbabylonischer Zeit an bis in die Gegenwart.

Es geht um Machtbalance

Die Kernthese des Buchs: Der Fortschritt der Menschheit hängt zu einem wesentlichen Teil von der sich vergrößernden Rolle des Staates und seiner Leistungsfähigkeit ab, neuen Herausforderungen zu begegnen, während die Gesellschaft zugleich mächtiger und wachsamer wird. 

„Freiheit benötigt den Staat und die Gesetze. Sie wird aber nicht vom Staat oder den Eliten, die ihn kontrollieren, erteilt“, schreiben die Autoren. Vielmehr werde sie von den gewöhnlichen Bürgern – von der Gesellschaft – errungen. Die Gesellschaft müsse den Staat kontrollieren, sodass er ihre Freiheit schütze.

„Die Freiheit geht aus einem fragilen Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft hervor“, schlussfolgern Robinson und Acemoglu. Die Machtbalance zwischen beiden ist entscheidend bei der Klärung der Frage, ob Nationen zu prosperierenden Demokratien werden oder ob sie scheitern.

„Die Zukunft der Welt ist offen und divers.“ Quelle: Wikipedia
James Alan Robinson

„Die Zukunft der Welt ist offen und divers.“

(Foto: Wikipedia)

Das optimale Gleichgewicht ist der sogenannte „gefesselte Leviathan“. Damit beziehen sich die Autoren auf den britischen Philosophen Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert den „Leviathan“ als eine allmächtige Staatsgewalt ersann, die den Krieg aller gegen alle verhindern sollte.

Der „gefesselte Leviathan“ – jene Balance, bei der der Staat seinen Machtbereich ausdehnt, aber eben genug Freiheit zulässt, damit sich eine Zivilgesellschaft entwickeln kann. Ein „despotischer Leviathan“ sei ebenso schädlich wie ein abwesender.

Wie „schmal dieser Korridor“ eines idealen Gleichgewichts ist („The Narrow Corridor“ ist der Titel der Originalausgabe), zeigen Robinson und Acemoglu anhand von unzähligen Fallbeispielen aus der Geschichte, wo Nationen eben nicht in der Lage waren, diese Balance herzustellen.

In China oder Saudi-Arabien etwa seien extreme Herrschaftsformen entstanden, weil die Gesellschaft mit der Entwicklung der Staatsmacht nicht Schritt gehalten habe. Aber auch die liberalen Demokratien des Westens seien gefährdet.

Die Interpretation der Geschichte anhand dieses Balancekriteriums ist nicht überall erhellend, wirkt manchmal gar ein wenig gezwungen. Interessant aber ist sie immer. Etwa dort, wo sich die Autoren kritisch mit Friedrich August von Hayek auseinandersetzen, für den der Staat immer schon dazu neigte, in das Marktgeschehen einzugreifen und im Extremfall zu einem despotischen Herrschaftsapparat zu werden.

Die These, dass die „wachsende Macht des Verwaltungsstaats eine neue Form von Knechtschaft hervorbringen könnte“, sei viel zu allgemein. Die Finanzkrise habe gezeigt, dass das Gegenteil auch richtig sein könne.

Daron Acemoglu, James A. Robinson: Gleichgewicht der Macht
S. Fischer
784 Seiten
28 Euro

Beispiel USA: Ausgerechnet jenes Land, das wegen seiner ausbalancierten Kontrollinstanzen als mustergültig gilt, leide noch heute unter einem „schwachen Leviathan“. Der Grund: Die Gründerväter mussten den Forderungen der Föderalisten während der Verfassungsdiskussionen 1787 nachgeben. Wichtige Funktionen wie der Schutz der Bürger vor „Unterdrückung durch Rassismus und vor Waffengewalt“ könne der Staat nicht erfüllen.

Auch die aufgeblähte Finanzindustrie, deren Kollaps die Weltfinanzkrise ausgelöst habe, sei die Folge eines schwindsüchtigen Staats. Der amerikanische Leviathan schaffe zwar Anreize für eine dynamische Wirtschaft, er scheitere aber zunehmend daran, die Wohlstandsgewinne, die durch die Globalisierung entstünden, gleichmäßig zu verteilen.

Etwas verwunderlich ist, dass der Leser fast 600 Seiten lesen muss, bis er auf den Namen Donald Trump stößt. Denn der Präsident der westlichen Führungsmacht stellt sicherlich für die Demokratie eine ähnliche Herausforderung dar wie der Systemkonkurrent China.

Robinson sagt, sie hätten sich bewusst dazu entschieden. „Wir wollten ein historisches Buch schreiben“, sagt er. „Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der aktuellen politischen Lage in den USA hätte uns von der Kernintention des Buchs abgelenkt.“

Auf den zunehmenden Populismus allerdings, der das Phänomen Trump erst möglich machte, gehen Robinson und Acemoglu ausführlich ein: „Populisten propagieren einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen dem Volk und einer intriganten Elite, pochen auf die Notwendigkeit, das System und seine Institutionen zu stürzen, weil sie angeblich nicht den Interessen des Volkes dienen“, schreiben die Autoren.

„Gleichgewicht der Macht“ ist bereits seine zweite gemeinsame Buchveröffentlichung mit Robinson. Quelle: Massachusetts Institute of Technology
Daron Acemoğlu

„Gleichgewicht der Macht“ ist bereits seine zweite gemeinsame Buchveröffentlichung mit Robinson.

(Foto: Massachusetts Institute of Technology)

Das sei genau Trumps Argumentation. Das heißt, selbst eine Gesellschaft mit einer langen Tradition der politischen Mobilisierung und des Misstrauens gegenüber Autokraten ist gefährdet. „Der Korridor“ ist „schmal“.

Mit großer Skepsis betrachten die Autoren ein Land, wo das Pendel eindeutig Richtung Despotismus ausschlägt: China.

Das Land habe sich fast 2000 Jahre lang immer weiter weg vom Korridor entfernt, und ein Richtungswechsel würde wohl „nicht ohne Brüche ablaufen“. Es werde schließlich die Zeit kommen, in der das Wachstum in der Volksrepublik erlahmen werde.

Die große Stärke des Buchs besteht in der historischen Analyse und dem Versuch, die Geschichte im Licht des fragilen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft zu interpretieren. Das ist gelungen. Ein umfassendes Theoriemodell freilich haben Robinson und Acemoglu nicht entwickelt.

Auch die Tatsache, dass die Autoren ihre Gedanken durch viele Schaubilder ergänzen, um den „schmalen Korridor“ zu verorten, täuscht eine mathematische Präzision vor, die es so gar nicht gibt.
Was das Buch aber hervorragend zeigt: Es gibt keine Teleologie in der Geschichte.

„Die Zukunft der Welt ist offen und divers“, urteilt Robinson. Selbst die konsolidierten Demokratien des Westens können scheitern. „Nimmt die staatliche Kontrolle der Gesellschaft überhand, droht Despotie; höhlt die Gesellschaft den Staat aus, droht Anarchie.“

Bleibt am Ende eine ermutigende Botschaft von Robinson: „Eben weil wir die Demokratie nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit betrachten können, wachsen auch die Widerstandskräfte gegen despotische Tendenzen – auch hier in Amerika“, sagt er. Gefragt, was nun sein nächstes Projekt sei, sagt er: „Ja es gibt eins“, das Thema wolle er aber nicht verraten. Nur so viel: „Es wird wieder eine Teamarbeit mit Acemoglu.“

Mehr: In China gelingt seit Jahrzehnten das Wirtschaftswunder per Regierungsdekret. Doch die Spannungen im Land mehren sich. Wie lange geht das noch gut?

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