Buchtipp: „Unsichtbare Frauen“: Eine Wundertüte, die erstaunt, entsetzt, sprachlos und wütend macht

Caroline Criado-Perez zeigt in ihrem Buch, dass unsere von Big Data beherrschte Welt fast ausschließlich auf männerbezogenen Daten basiert.
Bonn. Gleich zu Beginn ein wichtiger Hinweis: Bevor Sie wegklicken, weil Sie gerade den Begriff „Feministin“ und „diskriminiert“ gelesen haben – in diesem international gefeierten Sachbuch geht es nicht darum, Ihnen den Feminismus zu erklären. Oder gar „alte weiße Männer“ an die Wand zu stellen oder irgendwen als sexistisch zu brandmarken.
Im Gegenteil: Die aus London stammende Autorin Caroline Criado-Perez hat kein feministisches Feindbild. Stattdessen erklärt die 37-Jährige in „Unsichtbare Frauen“ anhand von Fakten und mit entwaffnender Sachlichkeit auf rund 425 Seiten, wie unsere von Daten beherrschte Welt ohne böse Absicht die Hälfte der Bevölkerung ignoriert – und welche Folgen die so entstandene Wissenslücke für Frauen hat.
Etwa wenn es um die Durchschnittstemperatur in Büroräumen geht. Die Formel, nach der sie berechnet wird, wurde in den 1960er-Jahren anhand der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 Kilogramm Gewicht erstellt. Damit sind normale Büros für Frauen, deren Stoffwechselrate signifikant niedriger ist als die Standardwerte für Männer bei derselben Tätigkeit, um fünf Grad zu kalt.
In einem anderen Beispiel geht es darum, dass Googles Spracherkennungssoftware offenbar nur aus der Perspektive von Männern programmiert wurde. So fand die University of Washington 2016 heraus, dass die Software männliche Stimmen mit 70 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit erkennt als weibliche Stimmen.
Caroline Criado-Perez zeigt darüber hinaus, dass das Fehlen der weiblichen Perspektive nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch ein wirtschaftliches Thema ist. Nehmen wir ein scheinbar geschlechtsneutral gestaltetes Klavier. Eine Studie ergab, dass die Standardklaviatur, angepasst an die durchschnittliche Männerhand, 87 Prozent der erwachsenen Pianistinnen benachteiligt und nicht nur ihrem beruflichen Erfolg, sondern auch ihrer Gesundheit schadet.
Apropos: Auch das Fehlen von Frauen in medizinischen Studien ist ein historisch tradiertes Problem, das in der Wahrnehmung des männlichen Körpers als Prototyp des Menschen wurzelt – dabei können geschlechterabhängige Wirkungen extrem sein, etwa bei Herzkrankheiten.
Und wenn Sie schon von geschlechtsspezifischen Gehaltsunterschieden gehört haben, lassen Sie sich gesagt sein, dass auch das nur die Spitze des Eisbergs ist.
Die unzähligen Beispiele aus Politik, Technologie, Arbeitswelt, Stadtplanung, Medien und medizinischer Forschung, die Criado-Perez sorgfältig recherchiert und zusammengetragen hat, zeigen sehr anschaulich, wie vor allem die unabsichtlichen Verzerrungen bei der Datenerhebung Frauen systematisch ausschließen.
Die Autorin spricht hier vom Gender-Data-Gap, wenn sie schonungslos die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offenlegt. Man weiß beim Lesen oft nicht: bin ich erstaunt, entsetzt, sprachlos oder wütend?
„Unser Denken“, so die Autorin und Rundfunkjournalistin, „wird in hohem Maß von der Annahme „männlich bis zum Beweis des Gegenteils“ bestimmt. Sie vertritt die klare Ansicht, „dass wir eine Welt, die für alle funktionieren soll, nicht ohne Frauen entwerfen können.“ Und plädiert kraftvoll und provokant für einen Perspektivenwechsel. „Es ist Zeit, dass Frauen gesehen werden.“
Dieses Buch ist eine so lehrreiche wie lesenswerte Wundertüte und es mutet sehr herausfordernd und ehrgeizig an, diese in wenigen Zeichen sinnvoll zusammenzufassen. Man merkt schon, dass Criado-Perez intensiv recherchiert und ihr Wissen, welches sie auf 75 Seiten Anhang dokumentiert, Hand und Fuß hat. Und das alles ist präzise, sachlich und leicht verständlich geschrieben.
Einzig die Dichte an Informationen, Daten und Studien hält einen davon ab, das Buch in einem Rutsch zu verkonsumieren. Aber auch, wenn Sie es in Häppchen genießen: „Unsichtbare Frauen“ ist ein starkes Buch, in dem Caroline Criado-Perez ohne jeden Dogmatismus deutlich macht, wie unsere Welt von einer Bewusstseinsänderung profitieren kann. Ein aufwühlendes Buch, das jeder gelesen haben sollte und uns die Welt mit neuen Augen sehen lässt.





