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Historische Krisen Warum die Geschichtsschreibung Pandemien meist schnell vergisst

In seinem neuen Buch schlägt Christopher Clark einen Bogen vom späten Babylon bis zur Jetztzeit. Was der Historiker über Trumps Erbe, den Brexit und Corona denkt.
07.01.2021 - 14:00 Uhr Kommentieren
In Deutschland machte den australische Historiker vor allem sein 2012 erschienenes Buch „Die Schlafwandler“ bekannt. Quelle: dpa
Christopher Clark

In Deutschland machte den australische Historiker vor allem sein 2012 erschienenes Buch „Die Schlafwandler“ bekannt.

(Foto: dpa)

Berlin Religion, politische Macht und das Bewusstsein der Zeit sind die drei großen Themen, mit denen sich Christopher Clark in seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ beschäftigt. Der in Cambridge lehrende Historiker schlägt darin einen großen historischen Bogen, der vom babylonischen König Nebukadnezar bis zu Donald Trump reicht.

„Wir haben immer das Gefühl, unsere Gegenwart würde ewig andauern, besonders in dunklen Zeiten“, erzählt Clark in einem Gespräch mit dem Handelsblatt. Die gerade zu Ende gehende Trump-Ära und die Corona-Pandemie würden jedoch das Gegenteil beweisen. „Die Abwahl des US-Präsidenten und die Entdeckung eines Impfstoffes durch zwei deutsche Wissenschaftler, die beide aus der Türkei stammen, waren für mich die guten Nachrichten des vergangenen Jahres.“

Der in Australien geborene Clark ist ein Chronist politischer Macht und Mächte. In Deutschland wurde er vor allem durch sein 2012 erschienenes Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ bekannt – und umstritten. Clark stellte darin die herrschende Meinung der deutschen Geschichtsschreibung von der Alleinschuld des deutschen Kaiserreichs am Kriegsausbruch infrage.

Die Metapher von schlafwandelnden Mächten hat seitdem Karriere gemacht und wird zum Beispiel auch dafür genutzt, die stetige Eskalation zwischen den Großmächten USA und China zu beschreiben. Umso wichtiger ist es Clark, dass die Metapher richtig benutzt wird: „Schlafwandler schlittern nicht wie auf einer Eisfläche“, betont er. Beim Schlafwandeln habe man eine bestimmte Absicht, aber das Bewusstsein für den breiteren Kontext des eigenen Handelns sei eingeschränkt. So sei es auch vor dem Ersten Weltkrieg gewesen: „Die damaligen Mächte versuchten, ihren Interessen nachzugehen, hatten dabei aber einen sehr engen Horizont, der das Wohlergehen der gesamten politischen Ordnung vernachlässigte.“

Viele seiner Historiker-Kollegen hätten die Metapher völlig missverstanden, sagt Clark. Sie hätten sein Bild so interpretiert, dass die Deutschen vor 1914 eingeschlafen waren und deshalb von der Kriegsschuld freigesprochen werden sollten. „Das ist für mich eine viel zu enge Lesart, die auch mit der Einschätzung des Historikers Fritz Fischer über den Ersten Weltkrieg zu tun hat.“ Fischer hatte mit seinem Standardwerk „Griff nach der Weltmacht“ vor allem die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschlands für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich gemacht.

Christopher Clark: Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump.
DVA
München 2020
336 Seiten
26 Euro

Clark sieht auch heute wieder schlafwandelnde Mächte am Werk. „Wenn man sich anschaut, wie die EU auf die Finanzkrise in Griechenland oder die Krise in der Ukraine reagiert hat, dann sieht man auch hier, dass es wenig durchdacht war. Helmut Schmidt hat dazu einmal gesagt, er sehe in der Ukrainekrise überall Schlafwandler.“

Gelte das nicht auch für die Briten und den gerade vollzogenen Brexit aus der EU? „Ja, auch der Brexit ist ein Beispiel für Schlafwandeln“, stimmt der Historiker zu. Die Befürworter und die Gegner des Brexits hätten das schicksalhafte Referendum 2016 völlig unterschiedlich verstanden: „Für mich als Brexit-Gegner war es eine Frage an den Verstand: Nützt es uns mehr, wenn wir innerhalb oder außerhalb der EU sind?“ Für die Brexit-Anhänger sei es eine Frage nach ihrer Identität gewesen: „Bist du ein freier Brite oder ein Knecht der EU in Brüssel?“

Dass in der Brexit-Debatte das Bild Europas so verzerrt dargestellt werden konnte, hat für den Historiker auch damit zu tun, dass es Europa bis heute nicht gelungen ist, den Kritikern der EU eine positive Erzählung entgegenzusetzen. „Es ist sehr schwer, ein europäisches Narrativ herzustellen“, sagt Clark. Warum? Weil die europäischen Nationalstaaten das Bild seit Mitte des 19. Jahrhunderts monopolisiert hätten.

„Ich schreibe im Moment an einem Buch über die europäischen Revolutionen von 1848“, berichtet der 60-Jährige. „Wenn es überhaupt in der Weltgeschichte ein Ereignis gab, das wirklich europäisch war, dann waren es die damaligen Revolutionen in 20 bis 30 europäischen Städten, die miteinander zutiefst vernetzt waren.“ Dennoch sei an diese Ereignisse nur national erinnert worden. „Wir müssen mit der europäischen Bildung anfangen“, fordert der Historiker.

So unglücklich der „australische Europäer“, der mit einer Deutschen verheiratet ist und ausgezeichnet Deutsch spricht, über den Austritt seiner Wahlheimat aus der EU ist, so zuversichtlich blickt Clark auf den kommenden Machtwechsel in den USA. Die Abwahl von Trump ist für ihn ein historischer Wendepunkt, der auch über Amerika hinausreicht. „Niemand verlässt die Bühne der Weltgeschichte, ohne irgendetwas zu hinterlassen“, warnt Clark mit Blick auf das Erbe des Trumpismus.

Die Vertrauenskrise wird bleiben

Er bezweifle jedoch, dass Trumps sozio-kulturelle Fangemeinde den populistischen US-Präsidenten politisch überleben werde. Trump habe stark von der normativen Kraft des Faktischen profitiert, also von seiner Präsenz als US-Präsident. „Wenn ihm jetzt der Stecker der Macht gezogen wird, fällt vermutlich auch seine sehr heterogene Anhängerschaft auseinander“, prophezeit der Historiker.

Die religiösen Evangelisten aus der Fangemeinde Trumps hätten kaum etwas mit den Waffenbrüdern der „Proud Boys“ zu tun, die der Republikaner immer wieder in Schutz genommen habe.

Auch der geopolitische Stil alter Machtpolitik werde durch den Abgang Trumps einen empfindlichen Legitimationsverlust erleiden, sagt Clark voraus. „Bleiben wird hingegen die Vertrauenskrise, die durch Trump verstärkt wurde, aber schon mit der globalen Finanzkrise begonnen hat.“ Viele Menschen hätten ihr Vertrauen in Politik, Regierungen, Behörden und Finanzinstitute verloren. Die Vertrauenskrise ist die Schlagzeile für unsere Zeit.“

Auch vor dem Ersten Weltkrieg habe es eine ähnlich große Vertrauenskrise gegeben. Die heutige sei aber viel tiefer und komplexer: „Denken Sie an die Glaubwürdigkeit von großen Zeitungen, die damals riesengroß war und heute immer weiter zurückgeht.“ Damals habe man Zeitungen gelesen, um herauszufinden, was man über die Welt denken solle. „Die meisten machen das heute nicht mehr.“

Auch die Universitäten hätten damals noch einen ungeheuren Respekt in der Bevölkerung genossen. „Auch das ist heute nicht mehr so. Das erarbeitete Wissen, die Expertise genießt diese Wertschätzung nicht mehr.“

Das zeige sich gerade auch in der Corona-Pandemie, die viele Menschen enorm verunsichert habe. „Pandemische Erlebnisse sind schon immer drastisch und dramatisch gewesen“, sagt Clark, „das sei diesmal nicht anders.“ Sie fühlten sich für die Betroffenen oft wie Umbrüche und Wendepunkte an.

„Wenn man sich Pandemien historisch anschaut, stellt man jedoch fest, dass sie oft alles andere als Umbrüche waren“, konstatiert der Historiker, „die Menschen stürzten sich danach meist wie wild in die alte Normalität zurück.“

Die vergessenen Pandemien

Das ist für Clark aber nur ein Grund, warum Pandemien aus unserem historischen Gedächtnis verschwinden. „Oft wurden die Pandemien sehr schnell vergessen“, berichtet der Cambridge-Professor, „denken Sie an Heinrich Heine, der 1832 nach dem Cholera-Ausbruch in Paris keine Spur davon mehr entdecken konnte.“ Und das sei damals viel schlimmer gewesen als die Corona-Pandemie heute. Sowohl was die Zahl der Toten angehe als auch der Verlauf der Krankheit selbst.

„Es ist eine Eigenart unseres historischen Gedächtnisses, dass diese menschlichen Katastrophen aus unserem Bewusstsein so schnell verschwinden“, resümiert Clark. Das sorge auch unter Historikern für Rätselraten. Einige seiner Kollegen vermuteten, dass dies auch dem männlichen Blick auf die Geschichtsschreibung zuzuschreiben sei. „Die Tatsache, dass die Pflege der Kranken eher den Frauen zufällt, ist für männliche Historiker weniger interessant“, berichtet Clark von den Diskussionen in seiner Zunft.

Der amerikanische Gelehrte Gary Gerstle weise außerdem darauf hin, dass an Sterbebetten der Intensivstationen keine Kriege gewonnen oder Menschenrechte verteidigt würden. „Das macht die historische Erzählung von Pandemien so schwierig. Sie erfüllen uns mit Schrecken und Scham, bieten aber wenig Raum für historische Höhepunkte.“ Hinzu komme, dass es sich bei dem Virus nicht um eine historische Figur handele. „Wir erfahren das als Kampf gegen einen unsichtbaren, nicht menschlichen Gegner.“

Mehr: Vier Wissenschaftler erklären, wie die Arbeitswelt nach Corona aussehen wird

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