Publizistin: „Wir haben uns eingerichtet in unseren Opferrollen“

Frau Marinić, Sie und viele andere engagieren sich seit Jahren für eine diversere Gesellschaft. Gleichzeitig erstarkt die AfD, die das Gegenteil will. Wie passt das zusammen?Es wird manchmal so wahrgenommen, dass ich mich für eine diversere Gesellschaft engagiere. Dabei ist das nicht so. Ich beobachte die Gesellschaft, und sie ist eben divers. Seit den 1970er-Jahren sind wir eine Einwanderungsgesellschaft, als mit den Gastarbeiteranwerbeabkommen Millionen Menschen nach Deutschland kamen. 25 Prozent der Menschen haben heute eine Migrationsgeschichte. In den nächsten Generationen wird es Schulklassen geben, in denen der Anteil an Kindern mit Migrationsgeschichte bei 90 Prozent liegt. Das ist die neue Realität, und mit ihr müssen wir umgehen, damit sie am Ende so gut wie möglich organisiert ist. Und wie erklären Sie das Erstarken von rechts außen?Es gab viele, die schon früh danach fragten, wie wir Städte, Schule, Strukturen darauf vorbereiten, dass wir schon längst eine Einwanderungsgesellschaft sind. Aber man hat jenen nicht zugehört, die konstruktiv Lösungen suchen wollten, und so entstand ein Handlungsvakuum, das zur Stagnation führte. Manche nennen es Reformstau. Rechte können dann sehr leicht beanstanden, dass die Lösungen der Gegenwart nicht funktionieren. Ihre Lösung der Probleme ist jedoch die Rückkehr in die Vergangenheit – eine Selbstberuhigung. Frustriert Sie das?Frustration ist keine für mich typische Reaktion. Es beschäftigt mich, aber ich bin überzeugt, es gibt Lösungen dafür. Es ist sehr schwer, zu den Handelnden zu gehören und gleichzeitig frustriert zu sein. Die Handlung eröffnet Hoffnungsspielraum. In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass jeder die Welt anders wahrnimmt, weil er andere Eindrücke über soziale Medien erhält. Folglich ist für manche die AfD ein Schreckensszenario, für die anderen ist die Partei die Lösung allen Übels. Viele Politiker warnen vor der AfD. Erreichen Sie damit überhaupt die Richtigen?Nein. Die Warnung vor den Rechten ist kein politisches Programm per se! Viele junge Wähler haben sich beschwert, dass Parteien sie aufgefordert haben: Wählt uns, um die AfD zu verhindern. Das ist kein politisches Programm, das ist Zeugnis eines Mangels. Wer ständig nur vor den Rechten warnt, der stärkt sie am Ende. Je besser das Angebot der anderen Parteien, desto weniger Interesse gäbe es an rechts außen. Das gilt auch in anderen Bereichen. Und zwar ...Bestes Beispiel ist der Klimawandel. Ich kann doch nicht den Klimawandel bekämpfen, indem ich dauernd Horrorszenarien an die Wand male und davor warne, dass die Erde nicht mehr bewohnbar sein wird. Die Bürger geraten in Panik, das Rationale tritt zurück, und es bleibt die Angst. Was wir brauchen, ist aber Aufklärung für die Zukunft. Uns fehlt ein Raum für das Aushandeln von Ideen für die Zukunft, deswegen haben die Rechten so eine Kraft. Diese verschweigen dann natürlich, dass die Zukunft durch das „Alles bleibt so, wie es ist“ härter wird, weil man sich nicht auf sie vorbereitet hat. Gleichzeitig ist ja das, was Panik erzeugt, auch das, was Leute erreicht – Stichwort Nachrichten. Nein, viele schalten heute ab. Es gibt viele Menschen, die haben die Kraft für diese Panikmache nicht mehr. Sie wollen Lösungen. Allein diese unglaubliche Zahl von neun Millionen, die 2015 den Menschen auf der Flucht hier geholfen haben, zeigte doch, wie viele helfen wollen und wissen, dass wir weltweit mit den Schicksalen der Menschen verbunden sind. Die Katastrophen kommen selten unerwartet. Selbst für Covid gab es schon vorab Szenarien in Katastrophenpapieren. Wir fiktionalisieren permanent Worst-Case-Szenarien, aber die Frage ist doch: Wie kommen wir in einen Zustand, in dem wir verstärkt über Best-Case-Szenarien diskutieren. Müsste nicht die Regierung die Lösungen bieten?Ich erwarte Lösungen gar nicht nur von der Ampel oder der Opposition. Aber ich erwarte, dass, wenn es gut ausgearbeitete Lösungen von Experten gibt, die Politik diesen Gehör verschafft und Wege findet, sie umzusetzen. In Deutschland bleiben Lösungspapiere oft in Schubladen. Die Ampel macht vor allem den Fehler, nicht ausreichend auf die Ressourcen der Wissensgesellschaft zurückzugreifen. Dadurch entsteht der Vorwurf „Die da oben machen ihr Ding“, und alle sind unzufrieden, weil keiner einbezogen ist. Sie schreiben, dass die Spielregeln der Demokratie nicht allen bekannt sind, sich also auch deswegen nicht jeder einbringen kann. Wie schafft man das denn, allen die Spielregeln näherzubringen? Durch Demokratiebildung und Partizipation. Interessanterweise sind die, die die Demokratie aktuell stark zu nutzen wissen, die Rechtsaußenkräfte, weil sie verstanden haben, dass die Demokratie von jedem Einzelnen lebt. Die AfD beherrscht also die Spielregeln der Demokratie? Ja, mit dem Ziel, diese verächtlich zu machen, wie man jetzt in Thüringen gesehen hat, wo sich unter einem AfD-Alterspräsidenten nicht einmal der Landtag ordnungsgemäß konstituieren konnte. Die AfD hat sich mit den Spielregeln auseinandergesetzt und schaut sehr genau, wo sie ein Stöckchen legen kann, um am Ende die Demokratie zu verhöhnen. Auch wenn es unglamouröse Themen sind – es ist wichtig, das demokratische Gerüst, die Institutionen, die Verfassung der Demokratie zu kennen, um Ideen einzubringen. Aktivismus ist eine Facette, aber die Institutionen halten die Demokratie am Laufen. Sie haben ein interkulturelles Zentrum in Heidelberg aufgebaut. War das Ihr Einbringen in die Demokratie?Da wurde ich von einer theoretischen Demokratin, einer Politologin, zu einer praktischen Demokratin. Ich konnte als Changemaker für die Stadt Mehrheiten dafür gewinnen, dass die Kommune selbst Strukturen für die Einwanderungsgesellschaft schafft. Viele Menschen konnten in das Projekt einbezogen werden. Wir haben zusammen gelernt, wie wir Ideen einbringen, wie man im Gemeinderat Akzeptanz schafft und welche Politiker man ansprechen muss. Durch das Gelingen merkt man vielleicht sogar, dass man nicht nur deshalb auf Barrieren stößt, weil man Migrant oder Frau ist, sondern weil eine Verwaltung ein träger Körper mit großen Beharrungskräften ist. Wir haben uns schon auch alle eingerichtet in unseren Opferrollen. Wie bitte?Ja, für mich war das demokratische Projekt auch eine Lernwiese, um unsere Gleichheit vor dem Gesetz zu erleben. Es ist für alle hart, das Neue in alten Strukturen durchzusetzen, dafür braucht es Bündnisse. Heute sind wir es leider gewohnt, uns meist über eine Identität zu markieren. Der eine kämpft feministisch, die andere migrantisch oder aufgrund anderer Marginalisierung. Jeder hat sozusagen seine Identität, mit der er sich identifiziert und mit der er kämpft. Auch das schwächt am Ende die Gesellschaft als Ganzes. Zu viele emanzipatorische Demokraten haben angefangen, sich über die Unterschiede in ihren eigenen soziologischen Milieus zu definieren, statt die Gemeinsamkeit mit anderen zu sehen. Weil wir nicht verstehen, dass wir nur zusammen erfolgreich agieren könnten, kommt keiner von uns voran. Die Demokratie lebt von Mehrheiten. Wegen der Überalterung der Gesellschaft sind junge Menschen in der Minderheit. Wie sollen sie noch an die Spielregeln der Demokratie glauben?Ich würde erst mal einen jungen Menschen in Deutschland fragen, ob er sich im Klaren darüber ist, dass eine solche Frage Luxus ist. Dass wir uns solche Fragen stellen können, heißt, wir leben in einem System, das wir hinterfragen dürfen, wie es junge Menschen in repressiven Ländern nicht können. Nur zu sagen, die Mehrheiten seien nachteilig verteilt, ist Hochmut, da würde ich die Leute gern schütteln und sagen: Nutze doch dein Privileg! Auf kommunaler Ebene haben Jugendliche unglaubliche Chancen. Sie sind zwar zahlenmäßig geringer, aber sie haben die Kraft, zu mobilisieren, zu gestalten. Viele Ältere wären froh, ihre Posten abzugeben, viele Parteien suchen Nachwuchs. Fridays for Future hat versucht sich einzubringen und ist gescheitert... Nein, erst mal war Fridays for Future eine der größten demokratischen Bewegungen der letzten Jahre. Ihre Bewegung ist auch wegen Corona verebbt und weil sie großen monetären Interessen gegenüberstanden, vor denen man sich machtlos fühlt. Das zeugt jedoch nicht vom Scheitern der Jugend. Das gleiche Problem zeigt sich bei den Kranken, den Armen, den Eingewanderten, weil es in unserer Gesellschaft derzeit eben in erster Linie um ökonomische Interessen geht. Das trifft viele und löst Ohnmachtsgefühle aus. In einer Demokratie würde ich mir schon wünschen, dass Initiativen wie Fridays for Future verstärkt die bestehenden Strukturen nutzen, um mit der Erneuerung der Institution zu beginnen, und dies nicht anderen überlässt. Jetzt wurden Grenzkontrollen eingeführt. Ist das eine Art der Lösung, wie man Themen nicht den anderen überlässt?Im Gegenteil. Damit zeigt man, dass man sich von ihnen die Lösung diktieren lässt. Wir haben es seit den 1980ern beim Thema Einwanderung mit dem Schüren von Angst zu tun, die man politisch instrumentalisiert. Früher hatte man Angst vor Italienern und Türken, später vor Iranern, heute vor Syrern. Das ist die klassische Angstrhetorik, die ist einfallslos, aber sie funktioniert, weil sie hierzulande eingespielt ist. Damit löst man jedoch nicht die Migrationsfrage. Im Zweifelsfall wäre es derzeit sogar besser, Grenzkontrollen zu machen, dann aber nicht mehr nur darüber zu reden, damit wir uns den großen Fragen der Migration widmen können. Und zwar?Wer kümmert sich morgen um die Alten, wenn die Boomer in Rente gehen? Wer kümmert sich um die Lehrer an den Schulen, damit sie der Situation gewachsen sind? Wer kümmert sich um die Infrastruktur in diesem Land? Wer baut die Brücken, die gerade marode sind? Das wären relevante Migrationsfragen, denn demografisch haben wir hierfür derzeit keine Lösung. » Lesen Sie auch: „Schauen Sie mal nach China. Das Land mag eine Diktatur sein, macht aber eine intelligente Industriepolitik.“ Ihr Buch heißt „Sanfte Radikalität“. Dass Sie nicht komplett radikal sein wollen, verstehe ich. Sie wollen schließlich die demokratischen Instrumente nutzen. Was ist überhaupt das Radikale an Ihrem Ansatz? Radikal heißt erst mal: an der Wurzel packen. Ich will Wandel. Dabei kann ich eine Pflanze rausreißen oder sanft an der Wurzel fassen und umpflanzen. Übertragen heißt das: Ich wähle Mittel, die andere behutsam mitnehmen auf dem Weg in eine gerechte Gesellschaft. Die Aufklärung ist nicht verhandelbar, und die Menschenrechte möchte ich nicht zurück abgewickelt sehen, sie sind eine Errungenschaft. Das ist aber heute tatsächlich schon eine radikale Haltung, weil wir Kräfte haben, die genau das zersetzen wollen. Wenn wir uns durch Grenzkontrollen isolieren, müssen wir uns auch fragen, ob wir in nationaler Einsamkeit dastehen wollen gegen Supermächte wie China oder Indien. Ich setze mich für ein starkes Europa ein. Heute ist es schon radikal, die europäische Idee nicht aufgeben zu wollen. Wir müssen die radikalen Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaft verteidigen, aber nicht mit den Mitteln derer, die die Demokratie zerstören wollen. Das ist sanfte Radikalität. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Marinić. Mehr: „Finanzpolitisches Nirwana“: Experten bewerten die Wirtschaftspläne der AfD kritisch Erstpublikation: 18.10.2024, 04:00 Uhr.