Kolumne: Business Class Warten auf Gernmann

„Suter ist wieder aufgetaucht.“
„Der Ex-CFO der Atquenta?“
„Nein, der Kolumnist.“
„Ich dachte, die gibt es nicht mehr seit dem Fall der Mauer.“
„Kolumnist. Nicht Kommunist.“
„Ach so. Jetzt erinnere ich mich. Der schrieb so Sachen.“
„Genau. Das tut er jetzt wieder.“
„Aha.“
Gerber und Walser sitzen im großen Sitzungszimmer in der zwölften Etage und warten auf Gernmann, den CEO. Sie sind es gewohnt, auf ihn zu warten. Sie – und nicht nur sie – haben ihn im Verdacht, dass er sie warten lässt, auch wenn er eigentlich pünktlich sein könnte. Er wurde einmal von einem ungenannten Informanten dabei beobachtet, wie er pünktlich auf die Tür ebendieses Sitzungszimmers zusteuerte, im letzten Moment auf seine Uhr schaute, rechtsum kehrtmachte, in der Toilette verschwand und dort volle acht Minuten verschollen blieb, der Informant hatte die Zeit gestoppt. Es gab Stimmen, die vermuteten, dass Gernmann einfach aufs Klo musste. Aber andere widersprachen mit dem plausiblen Argument, dass man dieses Bedürfnis normalerweise nicht an der Armbanduhr abliest. Die gemeinsamen Warte-Episoden der beiden haben nicht nur deshalb etwas Unangenehmes, weil sie Gernmanns hierarchische Überlegenheit demonstrieren, sondern auch deshalb, weil Gerber und Walser, der CFO und der COO, sich nicht viel zu sagen haben. Deshalb bewegen sich ihre Wartegespräche jeweils auf dem Niveau eines Fahrstuhl-Smalltalks.
„Und wo?“, erkundigt sich Walser.
„Wie, wo?“, fragt Gerber.
„Schreibt er.“
„Suter? Der hat jetzt so eine Website. Dort schreibt er unter anderem wieder diese Kolumne von früher, Business Class.“
„Waren das nicht so Texte gegen die Wirtschaft?“
„Na ja, nicht direkt gegen die Wirtschaft. Mehr so gegen die Wirtschaftsführer.“
„Das kommt schlussendlich auf dasselbe hinaus.“
Gerber wiegt den Kopf hin und her. „Nicht ganz“, sagt er schließlich. „Es gibt schon ein paar sehr“, er macht zwei Luftanführungszeichen, „‚spezielle Exemplare“ unter den“, wieder zwei Anführungszeichen, „‚Wirtschaftsführern“.“
Beide versinken in Schweigen.
Plötzlich lacht Gerber auf.
Walser sieht ihn misstrauisch an. „Was ist lustig?“
„Erinnerst du dich an den, der Werksbesichtigungen macht, um sich beim Personal anzubiedern?“
Walser erinnert sich nicht.
„Doch! Der sich überall aufspielt mit seinem Fachwissen. ‚Aha, am Schweißtisch“, und so.“ Gerber klopft sich auf die Schenkel.
„Ach der!“, ruft Walser aus und lacht jetzt mit. „Und dann irgendetwas mit dem Wagenheber.“
„Genau! Und er im hellbeigen Flanellanzug!“
Beide lachen laut.
„Diese Kolumne war schon ziemlich gut“, keucht Walser.
„Und die auch von dem, der nur darauf wartet, dass dem andern das Radieschen von der Gabel in die Salatsoße plumpst ...“
„... und ihm die Krawatte verspritzt ...“
Beide lachen wieder.
„... aber der hat eine Reservekrawatte dabei ...“
„... und dann passiert es ihm selbst auch ...“
Sie brüllen jetzt vor Lachen.
„Aber der“, keucht Gerber, „der hat keine Reserve ...“
Der Rest geht im Gelächter unter.
Als sie sich beruhigt haben, sagt Gerber: „So sind die.“
„Genau so“, bestätigt Walser.
„Und weißt du, was der Witz ist?“
„Ja. Ähm ... nein?“
„Der Witz ist: Die, die gemeint sind, fühlen sich nie betroffen.“
„Nie“, grinst Walser. „Gar nie!“
Gerber wird wieder von einem Lachanfall heimgesucht.
Walser stimmt ein. „Und die Geschichte von denen ...“, prustet er.
„Welchen?“, kichert Walser zurück.
„Den beiden, die im großen Sitzungszimmer auf den CEO warten ...“
„... der sie immer warten lässt ...“
„... auch wenn er pünktlich sein könnte ...“
Beide brüllen wieder vor Lachen.
„Und sich dabei ...“
„... über diese Deppen in der ‚Business Class‘ lustig machen!“
Die Management-Kolumne „Business Class“ war Martin Suters Entree in die Karriere als Schriftsteller. Nach 13 Jahren Pause ließ er sie 2019 wieder auferstehen – mit den Mitteln der Jetztzeit: Crowdsourcing, Social Media und Paid Content. Das Handelsblatt Magazin druckt einige der neuen Kolumnen exklusiv ab. Mehr finden Sie auf martin-suter.com
Dieser Text ist entnommen aus dem Handelsblatt Magazin N°1/2020. Das komplette Handelsblatt Magazin als PDF downloaden – oder gedruckt mit dem Handelsblatt vom 06. März 2020 am Kiosk erwerben.
Mehr: Martin Suters „Business Class“ wird Teil des Handelsblatt Magazins
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