1. Startseite
  2. Meinung
  3. Gastbeiträge
  4. Gastkommentar: Arzneimittelversorgung – Europas riskante Abhängigkeit von China

GastkommentarArzneimittelversorgung – Europas riskante Abhängigkeit von China

Peking hat nicht nur seltene Erden als Druckmittel. Europa muss auch bei Pharmaprodukten eigenständiger werden, fordern David Francas, Jasmina Kirchhoff, Tim Rühlig und Martin Catarata. 03.11.2025 - 04:14 Uhr Artikel anhören
Autoren David Francas,
Jasmina Kirchhoff, Tim Rühlig und Martin Catarata: Chinas Arznei-Aufstieg ist das Ergebnis gezielter Industriepolitik. Foto: DPA

Unsere Arzneimittelversorgung hängt massiv von Asien ab – besonders bei Generika, die rund 80 Prozent der verordneten Arzneimittel ausmachen. Mit Blick auf China ist eine Abhängigkeit von so elementaren Produkten wie Arzneimitteln besorgniserregend und erfordert ein schnelles Handeln Europas nach dem Vorbild der US-Regierung. Die hat jüngst im Fall der seltenen Erden eine Einigung mit China erzielt und mit Australien und Japan Rohstoffdeals abgeschlossen, um eigene Abhängigkeiten abzubauen.

Denn China ist nicht nur Partner und Wettbewerber, sondern auch Systemrivale Europas. Unsere Abhängigkeit kann im Krisenfall die medizinische Grundversorgung gefährden.

Die Risiken zeigt ein Stresstest der Autoren dieses Beitrags mit 56 versorgungsrelevanten Wirkstoffen. Bei mehr als der Hälfte – konkret 30 Substanzen – besteht eine mittlere bis hohe Abhängigkeit von chinesischen Herstellern. Darunter sind Standardmedikamente wie Paracetamol, Metamizol und Metformin, eines der meistverordneten Diabetesmittel.

Doch unsere Abhängigkeit von China zeigt sich nicht nur bei Wirkstoffen – sondern auch bei den benötigten Vorprodukten. Ein Beispiel: Rund 13 Prozent des Metformin-Wirkstoffs stammen direkt aus China, dafür aber mehr als 80 Prozent des für die Herstellung benötigten Ausgangsstoffs Dicyandiamid.

Ähnlich gelagert ist die Situation bei Antibiotika. Rund 98 Millionen Packungseinheiten dieser 56 Wirkstoffe werden in Deutschland insgesamt verordnet. Fiele China als Lieferant dieser Wirkstoffe aus, wären hiervon jährlich bis zu 42 Millionen Packungseinheiten betroffen.

China: Vom Generikahersteller zum Innovator

Chinas Aufstieg ist das Ergebnis gezielter Industriepolitik. Mithilfe staatlicher Investitionen und Subventionen etablierte sich das Land systematisch als unverzichtbarer Akteur in der globalen Arzneimittelproduktion.

Wollte die chinesische Führung anfänglich eigene Abhängigkeiten minimieren und sich gegen externe Schocks absichern, hat sie mittlerweile die wirtschaftlichen und geopolitischen Potenziale erkannt. Die europäischen Gesundheitsminister haben diese Lage kürzlich in einem offenen Brief als „Achillesferse unserer Verteidigungsstrategie“ bezeichnet.

Dass China Abhängigkeiten zur Durchsetzung politischer Ziele nutzt, ist nicht neu, wie zuletzt Exportkontrollen für seltene Erden als Reaktion auf den Zollstreit mit den USA zeigten. Auch wenn eine Instrumentalisierung pharmazeutischer Produkte wegen der massiven Reputationsschäden, die China in Kauf nehmen müsste, eher unwahrscheinlich erscheint: Allein die Drohkulisse dazu engt unsere Handlungsspielräume ein.

Dies gilt umso mehr als Peking sich laut einzelner öffentlich zugänglicher Quellen in China bewusst zu sein scheint, dass es im geopolitischen Konfliktfall Pharmagüter als Druckmittel einsetzen könnte.

Darüber hinaus droht die europäische Pharmaforschung zurückzufallen, während China sich zum globalen Innovationsmotor entwickelt. Pharmaunternehmen in China melden bereits ungleich mehr pharmazeutische Entwicklungen zum Patent an als die Branche in Deutschland.

Besonders bei Biopharmazeutika holt die chinesische Konkurrenz im globalen Wettbewerb rasant auf. Gleichzeitig steigt der Anteil asiatischer Produktionsstätten an der europäischen Versorgung – ein Indiz für die schwindende Stellung Europas im globalen Pharmasektor.

Was jetzt zu tun ist

Der jahrzehntelange einseitige Fokus der Gesundheitspolitik auf Kostensenkungen und die mangelnde Abstimmung mit der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik haben substanziell zu den heutigen Schwachstellen in der Versorgung beigetragen. Nun braucht es ein gesamteuropäisches Vorgehen und ein mutiges Maßnahmenbündel zur Verbesserung der Standortqualität für die Pharmaindustrie.

Zwar hat die EU mit dem Critical Medicines Act einen ersten richtigen Schritt getan. Doch wird dieser nicht reichen, solange Gesundheitspolitik weiterhin primär auf kurzfristige Kostensenkungen im Arzneimittelbereich setzt.

Vielmehr braucht es eine industriepolitische Kehrtwende in der EU. Entscheidend ist der Aufbau ausreichender Produktionskapazitäten in Europa. Dies kann über marktbasierte Anreize sowie langfristige Förderprogramme und Vergabekriterien gelingen, die neben dem Preis auch Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz berücksichtigen.

Gleichzeitig müssen Lieferketten breiter aufgestellt werden – etwa durch Partnerschaften der EU mit Drittstaaten im Rahmen der Global Gateway Initiative. Und nicht zuletzt ist Europas Innovationskraft zu stärken: mit einer kohärenten europäischen Forschungsstrategie, die gezielt biotechnologische Entwicklungen fördert, auch im Bereich der Biosimilars, also der Generika von biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln.

Die Arzneimittelversorgung ist ein zentrales Element öffentlicher Daseinsvorsorge und Teil der kritischen Infrastruktur. Wer Versorgungssicherheit will, muss sich aus einseitigen Abhängigkeiten befreien – und strukturelle Fehler entschlossen korrigieren.

Die Autoren:

Verwandte Themen
China
Europäische Union
Deutschland
Industriepolitik
Wirtschaftspolitik
  • David Francas leitet das Healthcare Supply Chain Institute.
  • Jasmina Kirchhoff ist Projektleiterin der Forschungsstelle Pharmastandort Deutschland beim Institut der deutschen Wirtschaft.
  • Tim Rühlig ist Senior Analyst für Global China des European Union Institute for Security Studies.
  • Martin Catarata ist Senior Consultant und Lead Researcher bei Sinolytics.

Die Autoren haben im Auftrag des Verbands der Generika-Hersteller, Pro Generika, die Folgen eines Exportstopps Chinas für generische Wirkstoffe untersucht.

Mehr zum Thema
Unsere Partner
Anzeige
remind.me
Jetziges Strom-/Gaspreistief nutzen, bevor die Preise wieder steigen
Anzeige
Homeday
Immobilienbewertung von Homeday - kostenlos, unverbindlich & schnell
Anzeige
IT Boltwise
Fachmagazin in Deutschland mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und Robotik
Anzeige
Presseportal
Direkt hier lesen!
Anzeige
STELLENMARKT
Mit unserem Karriere-Portal den Traumjob finden
Anzeige
Expertentesten.de
Produktvergleich - schnell zum besten Produkt