Gastkommentar Die Deutschen haben ein äußerst widersprüchliches Verhältnis zum Datenschutz

Teils harter Widerstand gegen die Apps
Geht es in Deutschland um Fortschritte bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens, spielt der Schutz sensibler Daten stets eine prominente Rolle. In der Pandemie hat die Diskussion um die Luca-App und die Corona-Warn-App die Widersprüche bei diesem Thema erneut wie unter einem Brennglas gezeigt. Der Chaos Computer Club kritisierte die Luca-App aufgrund von Sicherheitsbedenken, nach Angaben des Anbieters aber wird sie von rund 20 Millionen Bundesbürgern genutzt.
Die Corona-Warn-App ist mit fast 30 Millionen Downloads sogar noch erfolgreicher. Kritiker beklagen jedoch, die Datenschutzstandards der Warn-App seien so hoch, dass ihr praktischer Nutzen für die Pandemiebekämpfung gegen null tendiere. Denn die dezentrale Speicherung der Daten ermöglicht es lediglich, Nutzer und Nutzerinnen nachträglich über mögliche Risikokontakte zu informieren.
Genauere Informationen, wann und wo Begegnungen stattgefunden haben, gibt es nicht. Dabei könnten genau diese Daten wertvolle Hilfe leisten, Infektionsketten effektiver zu verfolgen und Übertragungswege zu erkennen. Sicherheit versus Nutzen. Das ist ein vermeintliches Dilemma, vor dem wir beim Thema Gesundheit immer wieder stehen. Die Abwägung der Datenschutzinteressen des Individuums gegen die Chancen, die die Auswertung der Daten bringt. Aber ist es wirklich eine Entweder-oder-Entscheidung?
Ich sage Nein, es muss vielmehr der richtige Kompromiss gefunden werden. Sicherheitsbedenken werden in vielen Fällen als Scheinargumente genutzt. Ich beobachte immer wieder, dass Datenschutz in Debatten undifferenziert als Totschlagargument für die Durchsetzung von Lobbyinteressen dient. Bei der Corona-Warn-App hätte eine zentrale Datenspeicherung die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gar nicht verletzt, ein hoher Datenschutzstandard widerspricht keineswegs automatisch der Nutzung von Daten.
Wobei nicht alle Einschränkungen der Corona-Warn-App das Ergebnis eines demokratischen Diskurses über mögliche Lösungsoptionen waren: Google und Apple haben Staaten hier Restriktionen gesetzt, die sie jedoch für ihre eigene Datensammlung und -nutzung nicht konsequent beachten. Ein Blick auf große Digitalprojekte wie die elektronische Patientenakte zeigt: Es ist oft nicht die viel gescholtene DSGVO, die das Potenzial digitaler Lösungen einschränkt.
Primat des Datenschutzes hinterfragen
Das liegt viel häufiger an der nationalen, teilweise föderalen Auslegung der europäischen Gesetzgebung durch die Datenschützer. Der politische Handlungsrahmen bleibt oft ungenutzt, da der Primat des Datenschutzes in Deutschland selten hinterfragt wird. Ein Blick auf unsere Nachbarländer zeigt: Auch im Rahmen der DSGVO ist eine fortschrittliche Digitalstrategie möglich. Woran liegt es also, dass hierzulande Datenschutz so oft zum Selbstzweck wird?

Dr. Jens Baas ist Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. Vorher war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer.
Das Verhältnis der Deutschen zum Datenschutz ist äußerst widersprüchlich. Auf der einen Seite begegnen Nutzer selbst einer Anwendung wie der Corona-Warn-App, die höchsten Datenschutzanforderungen genügt, mit Skepsis. Auf der anderen Seite haken Menschen aus Bequemlichkeit Allgemeine Geschäftsbedingungen einfach ab und lassen sich unbekümmert von den Apps großer sozialer Netzwerke oder Messenger-Dienste tracken.
Es geht beim Thema Datenschutz oft gar nicht um konkrete Bedenken, die mit rationalen Argumenten entkräftet werden könnten. Stattdessen grassieren diffuse Ängste vor einer dystopischen Bedrohung, die sich bei uns auch aus der Erfahrung mit zwei Diktaturen speist. Wer in Deutschland über Datenschutz spricht, tut das selten, wenn es um Chancen oder Fortschritt geht. Wenn der Begriff „Daten“ fällt, denken viele Deutsche „Missbrauch" gleich mit.
Dabei wird Big Data künftig in nahezu allen Bereichen eine wichtige Rolle spielen. So setzt etwa medizinischer Fortschritt heutzutage die Auswertung großer Datenmengen voraus. Die Analyse von Behandlungsinformationen erlaubt es bereits heute, Therapien individuell zugeschnitten auf das spezifische Krankheitsbild eines Patienten anzuwenden. Daten helfen zu erkennen, welche Kombination von Behandlungen und Präparaten erfolgreich ist und wie Patienten bestmöglich therapiert werden können.
Wichtige Daten dürfen nicht ausgewertet werden
Als Krankenkasse sehen wir das Potenzial von Daten für die Gesundheit auch in unseren Abrechnungsdaten – ob es dabei um die Verschreibung von Medikamenten mit gefährlichen Wechselwirkungen geht, das Vermeiden unnötiger Operationen durch frühzeitiges Anbieten einer Zweitmeinung, individuell angepasste Präventionsunterstützung oder die wissenschaftliche Auswertung von Diagnose- oder Therapieverfahren.
Unbestreitbar ist: Heute schon vorliegende Daten könnten für Patienten und das Gesundheitssystem von großem Nutzen sein. Meist dürfen die Daten aber für diese Zwecke nicht ausgewertet werden, viel zu oft liegen sie auch erst Monate nach einer Behandlung den Krankenkassen vor. Gäbe es sie in Echtzeit und mit der Freigabe, sie auszuwerten, könnte sofort interveniert und Leben gerettet werden – wenn es nur zulässig wäre.
Die Beispiele zeigen: Datenschutz in Deutschland muss neu gedacht werden. Datenschutz darf im Jahr 2021 nicht mehr bedeuten: Wir schützen die Privatsphäre, indem wir vor der Digitalisierung die Augen verschließen. Patientinnen und Patienten haben ein Recht darauf, dass Daten für ihre Gesundheit genutzt werden – wie es der Sachverständigenrat für Gesundheit in seinem neuen Gutachten fordert.
Das Gutachten kehrt bisherige Glaubenssätze in ihr Gegenteil um und bricht mit der alten Maxime, wonach Informationen nach dem Prinzip der Datensparsamkeit am besten gar nicht erst erhoben werden. Im Gesundheitskontext kommt es unterlassener Hilfeleistung gleich, wenn wir uns bewusst dagegen entscheiden, Daten auszuwerten, obwohl dadurch Patienten geholfen und sogar Leben gerettet werden können. Für medizinische Daten sollte gelten: Werden sie erhoben, sollten sie auch gespeichert werden können.
Das Recht, eigene Daten zu löschen
Der Staat muss dafür sorgen, dass die Speicherung unter der Hoheit der Patienten nach höchsten Sicherheitsstandards geschieht. Der Patient darf darüber bestimmen, wer seine Daten sehen kann, wie und wofür sie verwendet werden dürfen. Das schließt aus meiner Sicht ein durchaus umstrittenes Recht mit ein – das Recht, eigene Daten löschen zu dürfen.
Ärzte argumentieren, dass unvollständige Gesundheitsdaten zu falschen Diagnosen und Behandlungen führen können. Dieses Argument ist für mich als Arzt absolut nachvollziehbar. Entscheidet der Patient aber selbst, dieses Risiko einzugehen, muss das akzeptiert werden. Denn Datenschutz soll ja gerade nicht auf eine patriarchalische Bevormundung hinauslaufen, sondern jedem Einzelnen einen verantwortungsvollen Umgang mit seinen Daten ermöglichen.
Datenschutz ist gerade bei Gesundheitsdaten ein wichtiges Recht – das aber nicht automatisch höher gewichtet werden darf als das Recht auf Gesundheit und Leben! Wir müssen verstehen, dass sinnvoller Datenschutz und sinnvolle Nutzung von Daten keine Gegensätze sind. Sie müssen vielmehr miteinander in Einklang gebracht werden.
Der Autor: Dr. Jens Baas ist Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse. Vorher war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer.
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