Gastkommentar: Die EU ist kein starres Konzept – sie ist das, was wir aus ihr machen
Angesichts der zahlreichen Konfliktherde, zunehmenden Desinformation und Polarisierung fühlen sich immer mehr Menschen orientierungslos und verloren. Zeitgleich verändert die KI-Revolution nachhaltig die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten. Um in dieser neuen Realität zu navigieren, müssen wir gemeinsam an einer stärkeren und geeinteren Union arbeiten, die Sicherheit bietet und niemanden zurücklässt.
Die Europäische Union ist kein starres und vorgefertigtes Konzept – sie ist vielmehr das, was wir aus ihr machen wollen. Bei der Europawahl stimmten die Menschen für ein sichereres, faireres und wettbewerbsfähigeres Europa. Um das zu erreichen, müssen wir größere Verantwortung für unsere eigene Verteidigung übernehmen, unsere Betriebe besser unterstützen und unsere sozialen Sicherheitsnetze nachhaltig stärken. Deutschland als geografisches und politisches Herz Europas nimmt hierbei eine wichtige Rolle ein.
Das ist nicht nur eine Chance – es ist eine Notwendigkeit. Wir müssen uns eingestehen, dass für viele in unserer Gesellschaft der Status quo nicht mehr ausreicht. Die Menschen verlieren das Vertrauen in das europäische Projekt und suchen zunehmend an den politischen Rändern nach schnellen Antworten.
Es ist nicht zu spät, diesen Trend umzukehren. Neun von zehn Europäern wünschen sich mehr Einheit zwischen den Mitgliedstaaten. Daher müssen wir die Zusammenarbeit auf allen Ebenen und in allen Bereichen stärken und uns darauf konzentrieren, ein wirklich „besseres“ Europa zu schaffen, und nicht nur „mehr“ Europa zu forcieren.
Dafür brauchen wir erstens eine wettbewerbsfähige und innovative Wirtschaftspolitik, die die Bedürfnisse unserer Unternehmen in den Mittelpunkt stellt. Europa soll hier vorantreiben und nicht bremsen. Das bedeutet unter anderem Vorschriften vereinfachen, Bürokratie abbauen und endlich eine wirkliche Kapitalmarktunion schaffen, die Risiken trägt, Ehrgeiz belohnt und europäische Talente fördert.
Wenn Unternehmen in ganz Europa gemeinsam innovativ sein können, werden wir Preise senken, Investitionen ankurbeln und im Wettbewerb um den nächsten großen Durchbruch vorne dabei sein. Erste Entbürokratisierungspakete haben wir bereits auf den Weg gebracht.
Zweitens müssen wir eine stabile und bezahlbare Energieversorgung in Europa sicherstellen. Unsere Unternehmen sind bereits jetzt mit bis zu dreimal höheren Energiekosten konfrontiert als ihre internationalen Wettbewerber. Hier gilt es gegenzusteuern.
Wir haben bereits die Gas- und Stromnetze grenzüberschreitend ausgebaut und unsere Speicherkapazitäten erhöht. Dies ist ein guter Anfang, aber wir müssen noch viel weiter gehen, um einen vollständig integrierten Energiebinnenmarkt zu schaffen, der Europa wirklich voranbringen und die Kosten senken kann.
Drittens müssen wir mehr Verantwortung für unsere eigene Verteidigung übernehmen. Mehr als die Hälfte der Deutschen möchte, dass Europa eine größere Rolle bei der Sicherung von Frieden und Stabilität einnimmt und Bürgerinnen und Bürger vor Sicherheitsrisiken und globalen Krisen schützt. Die europäischen Verteidigungsausgaben haben sich im letzten Jahrzehnt stark erhöht. Wir investieren weiter in unsere Sicherheit, insbesondere in Deutschland.
Damit diese Investitionen schnell und effizient wirken können, gilt es, die Vorteile des EU-Binnenmarkts auch für Verteidigung zu nutzen. Dazu müssen unsere Verteidigungsindustrien besser kooperieren können – bei der Planung, Entwicklung und Beschaffung. Derzeit führt die Fragmentierung unserer Verteidigungsindustrie zu Verzögerungen, Ineffizienzen und Mehrkosten, die uns bremsen und uns schwächen.
Die USA verfügen über 30 verschiedene große Waffensysteme, während die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen 178 solcher Waffensysteme besitzen. Wie wir in den vergangenen Wochen gesehen haben, ist kein Mitgliedstaat vor Angriffen gefeit. Wenn wir Europäer auch morgen in Sicherheit leben wollen, muss sich an der jetzigen Situation etwas ändern.
In unsere Sicherheit zu investieren, bedeutet auch, weiterhin an der Seite der Ukraine zu stehen. Ohne die Unterstützung und Bemühungen Europas wäre Kiew jetzt in russischer Hand und Friedensgespräche nicht denkbar. Europa wird sich weiterhin für einen Frieden einsetzen, der dauerhaft ist und die Sicherheit für die Ukraine und Europa garantiert. Keine Entscheidung, die uns Europäer betrifft, darf ohne uns getroffen werden.
Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit, Energieunabhängigkeit, Entbürokratisierung, Frieden – das sind mehr als nur Schlagworte. Sie müssen unser Fahrplan für ein stärkeres und geeinteres Europa sein. Dafür braucht es Mut und Entschlossenheit, andernfalls wird Europa in der Welt außen vor bleiben.
Wir müssen uns jetzt entscheiden: mutiger Wandel oder langsamer, schmerzhafter Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Für mich gibt es da keine Wahl. Wir müssen anpacken und gezielt handeln. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Europa muss über sich hinauswachsen.
Autorin: Roberta Metsola ist Präsidentin des Europäischen Parlaments. Der Gastbeitrag erscheint zum Auftakt des PULSE Women Economic Summits „Let’s strengthen Europe“ des Frauen-Wirtschaftsnetzwerks PULSE der Handelsblatt Media Group. Hier gibt es mehr Informationen: https://live.handelsblatt.com/event/pulse-women-economic-summit/