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GastkommentarDie gefährlichen Nebenwirkungen der Sozialversicherung

Wenn die Pflegebedürftigkeit durch den Sozialstaat zu 100 Prozent abgesichert ist, könnte die Verantwortung, sich rechtzeitig um sich selbst zu kümmern, sinken, warnt Gregor Thüsing. Es droht der Kollaps des Pflegesystems. 21.08.2024 - 09:05 Uhr Artikel anhören
Der Autor Gregor Thüsing ist Professor an der Universität Bonn mit Schwerpunkt Sozialrecht. Foto: Getty images, privat [M]

Deutschland kann sich glücklich wissen, dass es eine funktionierende, für viele eine vorbildliche Sozialversicherung hat. Doch umfangreicher Sicherung stehen erhebliche Beiträge gegenüber. Und die steigen und steigen. Lag der Gesamtsozialversicherungsbeitrag 1970 noch bei 26,5 Prozent, liegt er aktuell bei 40,9 Prozent – und im nächsten Jahr wahrscheinlich bei mehr als 42 Prozent. In der kommenden Legislaturperiode werden die Beitragssätze dann auf 44 Prozent oder mehr steigen. Das ergibt sich aus aktuellen Einschätzungen der Sozialversicherungsträger und der Regierung. Die lagen in der Vergangenheit meistens richtig.

Die Entlastung der Pflegebedürftigen bedeutet eine höhere Belastung für die Beitragszahler

Die Politik täte gut, hier gegenzusteuern. Doch tut sie das? Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Leistungserweiterung lautet die Forderung der Zeit. Aus der CDU in Sachsen und Nordrhein-Westfalen kommt die Initiative für eine Reform der Pflegeversicherung. Bayrische Stimmen haben bereits Sympathie bekundet. Der Plan sieht eine komplette Kostenübernahme zugunsten von Pflegebedürftigen vor. Vollkasko.

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Was als Entlastung der Pflegebedürftigen zu begrüßen ist, wäre es als Belastung der Beitragszahler, hilfsweise Steuerzahler, sicherlich nicht. Der Gesetzgeber hat sich bei Schaffung der Pflegeversicherung für „Teilkasko“ entschieden. Das hat viele gute Gründe:

Viele sprechen jetzt vom Erbenschutzprogramm. Wer sich aktuell die Eigenanteile nicht leisten kann, für den zahlt ohnehin die Sozialhilfe, für die anderen letztlich die Erben, künftig aber der Beitragszahler. Die Sozialversicherungsbeiträge sind die Steuer des kleinen Manns, der auch eine Frau sein kann. Wenn Arbeit sich lohnen soll, dann muss die Politik nicht nur die Höhe der Sozialleistungen, sondern eben auch die Höhe der Sozialbeiträge im Auge haben. Beides macht den Unterschied zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit aus.

Pflegeversicherung als Vollkaskoversicherung mindert Bereitschaft für eine häusliche Pflege

Es ist noch gar nicht so lange her, dass der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vorschlug, eine Obergrenze für Sozialabgaben im Grundgesetz festzuschreiben. Damit erhielte die 40-Prozent-Grenze einen verbindlichen Charakter und wäre nicht länger eine fiktive rote Linie. Je näher die Wahlen kommen, je eher vergisst man sein Gerede von gestern.

Doch dies ist vielleicht gar nicht das wichtigste Argument. Die Umwandlung der Pflegeversicherung von einer Teil- zu einer Vollkaskoversicherung würde die Gefahr bergen, dass die Bereitschaft, pflegebedürftige Angehörige zu Hause zu pflegen, abnimmt. Auf dieses Engagement ist das System aber angewiesen. Dies widerspräche der Regelung im Sozialgesetzbuch (Paragraf 3 Satz 1 SGB XI), wonach die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen soll, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können.

Der sozialen Pflegeversicherung lag immer der Gedanke der Eigenverantwortung und Subsidiarität zugrunde. Das Gesetz (Paragraf 6 Abs. 1 SGB XI) verlangt deshalb vom Versicherten, durch gesundheitsbewusste Lebensführung und weitere geeignete Maßnahmen Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.

Durch die Gewissheit, bei Pflegebedürftigkeit durch den Sozialstaat zu einhundert Prozent abgesichert zu sein, könnte die Eigenverantwortung sinken und infolgedessen die Pflegeversicherung stärker belastet werden.

Einerseits steigt mit der Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach professioneller Pflege, andererseits sinkt das Arbeitskräftepotenzial, aus dem der Bedarf an Pflegekräften gedeckt werden kann. Woher also all die Pflegenden nehmen, die künftig vollständig versichert werden sollten?
Gregor Thüsing

Zudem: Durch die sinkenden Anreize zur häuslichen Pflege würde mittel- bis langfristig die Zahl der in Pflegeeinrichtungen zu pflegenden Menschen weiter steigen. Dabei ist die Pflege in doppelter Hinsicht vom demografischen Wandel betroffen: Einerseits steigt mit der Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach professioneller Pflege, andererseits sinkt das Arbeitskräftepotenzial, aus dem der Bedarf an Pflegekräften gedeckt werden kann. Woher also all die Pflegenden nehmen, die künftig stationär vollständig versichert sein sollten?

Volkswirtschaftlich wichtiger und sozial gerechter als Steuerentlastungen ist die Beitragsbegrenzung. Das passt mit Leistungsausweitungen nicht zusammen. Auch kurz vor der Wahl gilt: Sozialversicherung hat Nebenwirkungen. Nachhaltige Politik hat die stets im Blick.

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Der Autor:
Gregor Thüsing ist Professor an der Universität Bonn mit Schwerpunkt Sozialrecht.

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