Gastkommentar: Europas Finanzhilfen haben jegliches Maß verloren
Jürgen Stark war Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank und ist Honorarprofessor der Universität Tübingen.
Foto: 60078110 © © Thomas DashuberEs ist die Zeit der großen Zahlen. Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Shutdowns abzumildern und die Konjunktur danach wieder zu beleben, haben Regierungen und Zentralbanken alle Schleusen geöffnet und dabei jegliches Maß verloren. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht auf nationaler oder europäischer Ebene neue Finanzhilfen angekündigt werden.
Der Staat ist allgegenwärtig und als großer Planer zurück in unseren Volkswirtschaften. Er übertrumpft seine für einmalig gehaltenen Interventionen während der Finanz- und Staatsschuldenkrise nach 2008. Die Gründe sind heute andere als damals, auch die Bedingungen gleichen sich nicht.
Im Gegensatz zu den Bankenrettungen 2008 zieht niemand ernsthaft in Zweifel, dass viele der Überbrückungsmaßnahmen und die staatliche Konjunkturbelebung nötig sind. Die finanziellen Dimensionen sind jedoch gigantisch und stellen alles bisher Bekannte in den Schatten.
Hinzu kommt, dass die erhoffte Wirkung der Konjunkturmaßnahmen bezweifelt wird, denn die weitverbreitete Unsicherheit lässt Investoren und Verbraucher zurückhaltend sein, wie der Anstieg der Sparquote bereits zeigt. So besteht das Risiko, dass alte Fehler wiederholt werden und am Ende nur noch höhere Schulden bleiben, die zu höheren Steuern führen.
Bereits jetzt ist die regelrechte Explosion der öffentlichen Verschuldung infolge der Krisenmaßnahmen bedrückend. Insbesondere für Euro-Länder mit sehr hoher Vorkrisenverschuldung von über 100 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung könnte die wirtschaftliche Schuldentragfähigkeit gefährdet sein.
Höhere Risikoaufschläge auf die zu zahlenden Zinsen wären die Folge oder sogar die staatliche Insolvenz, wenn nicht die Europäische Zentralbank (EZB) verbotenerweise und in ungekanntem Umfang staatliche Anleihen ankaufen würde, wodurch sie die Risiken nivelliert, die Märkte verzerrt und falsche Anreize setzt.
Der laute Ruf nach Solidarität in Europa
Für Deutschland ist die Situation bemerkenswert anders, und der Bundesfinanzminister verteilt mit freundlichem Lächeln dreistellige Milliardenbeträge. „Wir können uns alles leisten“, hieß es einmal. Jetzt in tiefer Krise und Rezession zahle es sich aus, „gut gewirtschaftet zu haben“.
Wirklich? Es war richtig, dass sich die Bundesregierung dem massiven internationalen und europäischen Druck widersetzte, in den vergangenen Jahren den Haushaltsüberschuss für eine Konjunkturstimulierung einzusetzen.
In Wirklichkeit war das „gute Wirtschaften“ das Ergebnis der im internationalen Vergleich äußerst hohen Steuerlast, der hohen Steuereinnahmen bei guter Konjunktur und der Niedrigzinspolitik der EZB. Der deutsche Fiskus ist der große Gewinner des durch die EZB-Politik ausgelösten massiven Umverteilungsprozesses zwischen Gläubigern (Sparern) und Schuldnern.
Angesichts der Folgen der unverschuldeten Krise wird europäische Solidarität eingefordert. Europa solle ein Zeichen setzen, um die bereits hochverschuldeten Mitgliedstaaten zu entlasten. Das sind die Länder, die in den letzten Jahren fiskalpolitischen Schlendrian betrieben, nicht willens waren, ihren Schuldenstand trotz verbesserter Konjunkturlage zu reduzieren und sich bemerkenswert unsolidarisch gegenüber dem Euro gezeigt haben.
Konditionen und Tilgungsfragen völlig ungeklärt
Der Europäische Stabilitätsmechanismus und die Europäische Investitionsbank stehen für Hilfen bereit. Zusätzlich sollen über einen Europäischen Wiederaufbaufonds den stark von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern Finanztransfers und Kredite gewährt werden.
Dafür wurde ein Volumen von 750 Milliarden Euro vorgeschlagen, finanziert durch Kreditaufnahme der EU-Kommission. Nicht nur die Rechtsgrundlage hierfür ist fraglich, auch das Kreditrating ist offen. Ein „Triple A“ wird nur teuer zu erkaufen sein.
Ebenso sind die Konditionen- und Tilgungsfragen ungeklärt. Insbesondere Italien hat sich eine strikte Konditionalität verbeten. Die berechtigte Frage nach dem Zweck eines solchen Wiederaufbaufonds und was denn „wieder aufzubauen sei“, blieb bisher unbeantwortet. Weder die Infrastruktur wurde durch das Virus beschädigt, noch wurden Produktionsanlagen oder Dörfer und Städte zerstört.
Den Europapolitikern geht es um die Verteilung nicht vorhandener Mittel. Sie wollen durch weitere Verschuldung Europa wirtschaftlich umbauen, zukunfts- und wettbewerbsfähig machen, um gegenüber den USA und China zu bestehen.
Sie verkennen dabei, dass das Vorhaben Europa eher schwächt. Auch bleibt die Frage unbeantwortet, was Politiker und Beamte über die Zukunft wissen. Wissen sie mehr als im Wettbewerb stehende Unternehmen, die Zukunftschancen besser entdecken können, wenn man sie nur lässt?
Ein „europäischer Marshall-Plan“ war das politische Zauberwort, inzwischen abgelöst durch „Next generation EU“ der EU-Kommission. Man hätte gut daran getan, die Geschichte des Marshall-Plans genauer zu studieren, ehe man diesen Begriff in der heutigen Situation heranzieht.
Es waren keine amerikanischen Almosen, keine Finanztransfers, sondern Kredite, die unter strengen Auflagen und penibler Verwendungskontrolle vergeben wurden. Eine der Bedingungen war, für den Wiederaufbau Europas amerikanische Güter zu kaufen. Im Ergebnis übertraf die polit-psychologische Wirkung des Plans die realwirtschaftlichen Effekte.
Kein „Hamilton-Moment“ auf dem alten Kontinent
Für Westdeutschland waren die Währungsreform 1948 und die Aufhebung der Preiskontrollen durch Ludwig Erhard wichtiger als die Marshall-Plan-Gelder. Und vielleicht geht es bei einem europäischen Fonds auch um eine polit-psychologische Wirkung, allerdings zu dem sehr hohen Preis der vollständigen Umwandlung der Europäischen Union in eine Haftungs- und Transferunion.
Das verblüffend Richtige an „Next generation EU“ ist, dass die nächste zahlenmäßig schrumpfende Generation wenig vom Wiederaufbau profitieren wird, dafür aber die hohen Belastungen aus der heutigen extrem hohen Verschuldung wird schultern müssen.
Zusätzliche europäische finanzielle Hilfen werden im Übrigen nur wirken, wenn in den hochverschuldeten Ländern wirtschaftliche Reformen durchgeführt und die politischen Strukturen erneuert und effizienter werden.
Auch der „Hamilton Moment“ – die durch den ersten US-Finanzminister Hamilton durchgesetzte Vergemeinschaftung der Schulden der amerikanischen Staaten – greift in der jetzigen Diskussion zu kurz. Dieser „Moment“, jüngst vom Bundesfinanzminister hochstilisiert, ist völlig irreführend, wenn man die amerikanische Geschichte genauer verfolgt.
Unabhängig davon, dass die EU oder das Euro-Gebiet keine Föderation sind, belegt der angloamerikanische Historiker Harold James, dass die Vergemeinschaftung der Schulden zu neuen erheblichen Spannungen zwischen den US-Staaten und zu einem ökonomischen und politischen Desaster führte. Die Vergemeinschaftung der Schulden wäre kein gutes Omen für Europa!
Berlin muss seinen Beitrag leisten, darf aber nicht überfordert werden
Ohne Zweifel muss Deutschland seinen angemessenen finanziellen Anteil am europäischen Projekt tragen. Man darf aber seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen seiner Bürger weder überschätzen noch überfordern.
Die Verschuldung ist global exorbitant hoch und der Schuldendienst derzeit nur mithilfe der Zentralbanken tragbar. Aber: Die hohen Schulden von heute sind die noch höheren Steuern von morgen.
Oder die kalte Enteignung der Sparer greift über finanzielle Repression weiter um sich. Umschuldungen oder Staatsinsolvenzen wären die nicht wünschbare, aber dramatische Alternative.
Keinen Trost findet man in dieser Situation bei John Maynard Keynes, der in „Der große Absturz 1930“ feststellte: „Heute haben wir uns in einen riesigen Schlamassel verwickelt, weil wir uns in die Kontrolle einer komplizierten Maschinerie eingemischt haben, deren Arbeitsweise wir nicht verstehen. Das Ergebnis ist, dass unsere Chance auf Wohlstand für einige Zeit dahin ist – vielleicht für eine lange Zeit.“