Was lange Zeit unvorstellbar schien, ist seit Kurzem Wirklichkeit: Mit Rettungspaketen in dreistelliger Milliardenhöhe wollen die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer eine Wirtschaft wieder in Gang bringen, die durch Corona wie erstarrt wirkt. Aber reichen die Milliarden überhaupt aus angesichts einer Rezession, wie wir sie seit fast 100 Jahren nicht mehr erlebt haben? Zur Not wird eben aufgestockt. Corona, so viel steht schon heute fest, ist ein Turbo für Veränderungen.
Damals wurden Deutschlands Banken mit viel Geld vom Steuerzahler gerettet. Was hat das gebracht? Selbst die Deutsche Bank, für das deutsche Wirtschaftswunder fast so ikonisch wie Ludwig Erhard, ist im weltweiten Vergleich zu einer Art Regionalbank geschrumpft. Die Pandemiekrise offenbart in aller Deutlichkeit, wie viele Chancen verschlafen oder verschleppt wurden.
Droht Deutschland, droht Europa also in der Nach-Corona-Zeit die wirtschaftliche Verzwergung? Gemessen am Börsenwert stammen von den 100 wertvollsten Unternehmen heute 56 aus den USA, 18 aus Europa und 14 aus China – wobei der Angriff der Chinesen gerade erst begonnen hat.
Vor der Finanzkrise waren noch 46 der 100 wertvollsten Firmen in Europa ansässig. Das Softwareunternehmen SAP schafft es aktuell immerhin auf Platz 57. Noch prekärer für Europa sieht es bei Start-ups mit einem Wert von über einer Milliarde Dollar aus: 50 von ihnen sind amerikanisch, 26 kommen aus China, Deutschland und Europa sind beinahe bedeutungslos.
Derzeit ist Elon Musks Tesla-Konzern an den Börsen mehr wert als VW, Daimler und BMW zusammen. Börsianern geht es vor allem um die Zukunft. Experten zufolge hat Tesla bei Software und Batterietechnik einen Vorsprung von drei bis fünf Jahren gegenüber den deutschen Autobauern.
Global Challenges – Idee und regelmäßige Autoren
Apple, Microsoft, Google, Facebook, Amazon und Netflix dominieren zusammen mit chinesischen, japanischen und südkoreanischen Unternehmen die IT- und Medienbranche. Europa und Deutschland? Weit abgeschlagen. Aus europäischer Sicht dramatisch ist, dass sich diese ungünstige Entwicklung durch Pandemie und Rezession weiter verschärfen dürfte. Und damit nicht genug: Wir erleben gerade einen Wendepunkt der wirtschaftlichen Weltordnung. Die US-Ökonomie bleibt zwar stark, aber China rückt immer näher an den Primus heran.
In dieser Situation kann Europa nicht länger zwischen Washington und Peking ein „Weltkind in der Mitte“ (Goethe) sein. Der alte Kontinent muss sich endlich auf eigene Stärken besinnen. Konkret heißt das angesichts der Corona-Herausforderung: Angeschlagenen Unternehmen sollte es erleichtert werden, ihr Eigenkapital zu stärken und wieder Reserven zu bilden – durch eine Senkung der Unternehmensteuer, zweckgebunden natürlich, damit Unternehmen investieren und Rücklagen aufbauen können; nicht gedacht für Boni und Dividenden.
Darüber hinaus muss durch Deutschland und Europa in Anlehnung an den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog „ein Ruck gehen“. So sollte die Europäische Union lernen, global statt nur europäisch zu denken. Beispiel Wettbewerbsrecht: Wenn wir weiter Fusionen wie bei den Zugsparten von Siemens und Alstom verhindern, verkennen wir den relevanten Markt der Zukunft, der global ist. Solche Fusionsverbote schaden der Konkurrenzfähigkeit des Kontinents und leisten der Verzwergung Europas Vorschub.
Finanzhilfen allein reichen nicht
Der alte Grundsatz der Landwirtschaft „Wachsen oder weichen“ gilt auch für die Industrie. Europa muss überdies zügig umfassendere Handelsabkommen mit anderen Staaten oder Wirtschaftsregionen abschließen, um Märkte und Arbeitsplätze zu sichern. Dabei gehören Denkverbote wie die grundsätzliche Ablehnung der Gentechnik auf den Prüfstand.
Mit Blick auf die Innovationsfähigkeit von Politik hat das 130 Milliarden Euro schwere Konjunkturpaket der Bundesregierung positiv überrascht. Anders als in der Finanzkrise schüttet die Regierung nicht wahllos direkte Hilfen für notleidende Branchen aus. Allein 50 der 130 Milliarden Euro entfallen auf Investitionen in die Zukunft.
Gefördert werden zum Beispiel Künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Elektromobilität. Berlin hat offenbar erkannt: Deutschland muss sich wandeln, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Wie für Europa gilt aber auch für die Bundesrepublik: Milliardenhilfen allein reichen nicht. Hinzukommen müssen schnelle, durchgreifende Reformen – im Planungsrecht wie in der Bürokratie.
In seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“ beklagt der italienische Schriftsteller Carlo Levi die Rückständigkeit des armen italienischen Südens gegenüber dem reichen Norden. Ähnlich erging es der vor zehn Jahren groß angekündigten Energiewende in Deutschland.
Von den Tausenden Kilometern Stromtrassen vom Norden in den Süden und Osten sind erst einige Hundert verlegt. Im Paragrafendschungel des deutschen Bau- und Planungsrechts ist auch der Bau von Windkraftanlagen fast zum Erliegen gekommen. Für die Digitalisierung der Schulen stellte der Staat Milliarden zur Verfügung.
Doch die Anschaffung von Computern verlief derart schleppend, dass beim Lockdown der Schulen vielerorts Lehrer Hausaufgaben per Post verschicken mussten. Funklöcher gibt es in Deutschland nach wie vor reichlich, weil der Ausbau des 5G-Netzes ähnlich langsam vorankommt wie die Verlegung von Glasfaserkabeln für das schnelle Internet. Statt Langsamkeit zu kultivieren, muss Deutschland endlich die Bedeutung der Geschwindigkeit entdecken.
Das gilt insbesondere für die Förderung der Wasserstofftechnologie. Mit Wasserstoff könnten Busse und Bahnen, Lokomotiven und Schiffe fahren. Wasserstoff „made in Germany“ hat Exportschlager-Potenzial in einer Welt, die sich immer schneller verändert. Bleibt die bange Frage: Finden die Milliarden aus Berlin auch zügig ihren Weg über Instanzen und Behörden an Forschung und Unternehmen? Wenn nicht, hätten wir auch auf diesem Zukunftsfeld das Nachsehen – und mit uns Europa.
Mehr: Wie Corona Europas Position stärken kann
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.