Gastkommentar: Europas Versagen beim Derisking von China ist teuer

Im März 2023 rief EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Europa dazu auf, sich hinter einer Politik des wirtschaftlichen „Deriskings“ gegenüber China zu vereinen. Sie verwies auf gefährliche Abhängigkeiten und Bedrohungen für die industrielle Basis Europas.
Mehr als zweieinhalb Jahre später ist jedoch klar, dass ihre Warnung weitgehend ungehört verhallt ist. Heute ist Europa stärker denn je von kritischen Vorleistungen aus China abhängig. Die europäischen Hauptstädte haben das Konzept des Deriskings zwar übernommen, weigern sich jedoch, die notwendigen politischen Maßnahmen umzusetzen.
Chinas jüngste Exportbeschränkungen für kritische Mineralien und Chips des chinesisch geführten niederländischen Unternehmens Nexperia haben dieses Scheitern des Deriskings in aller Deutlichkeit offengelegt.
Es gibt viele Gründe, warum Europa in den vergangenen Jahren nicht gehandelt hat. Die EU war mit dringlicheren Krisen beschäftigt – vom russischen Krieg in der Ukraine bis zu Donald Trumps Handelskrieg. Zudem ist sie ein Block aus 27 Ländern, in dem politische Einigung langsam und schmerzhaft sein kann.
Statt Führung zu zeigen, wirkten Länder wie Deutschland als Bremse für die Risikominimierungsagenda der Kommission. Für den ehemaligen Bundeskanzler Olaf Scholz bezog sich die Zeitenwende auf Russland, nicht auf China.
Je länger Europas Derisking dauert, desto teurer wird es
Doch Europas Vorsicht hat einen hohen Preis. Jeder Tag, an dem Maßnahmen zum Schutz europäischer Arbeitnehmer vor billigen, subventionierten chinesischen Wettbewerbern aufgeschoben werden, kostet die EU schätzungsweise 500 Industriearbeitsplätze. Jeden Monat wächst Chinas Handelsüberschuss mit Europa um sieben Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr.
In jedem Quartal verlieren europäische Windkraftunternehmen ein Prozent ihres globalen Marktanteils an chinesische Konkurrenten. Jedes Jahr exportiert China eine Million Autos mehr – fast so viel wie Frankreichs gesamte Jahresproduktion –, obwohl die weltweite Nachfrage nach Autos stagniert. Die Folge ist der Abbau von Produktionskapazitäten anderswo.
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Je länger Europa das Derisking hinausgezögert, desto schwieriger und teurer wird es. In den zwei Jahren seit von der Leyens Rede in Brüssel hat China seinen Marktanteil bei sogenannten „Legacy Chips“, deren Markt auch Nexperia bedient, von 32 auf 40 Prozent erhöht und damit die Grundlage für eine neue große europäische Abhängigkeit geschaffen.
In den vergangenen vier Jahren ist Chinas Anteil an der Raffination von Kobalt von 65 auf nahezu 80 Prozent gestiegen, was Europas Abhängigkeit von China bei einem zentralen Input für Energie- und Verteidigungsversorgungsketten weiter verfestigt.
Während die chinesischen Behörden offen eine Politik verfolgen, die darauf abzielt, die Abhängigkeit ihres Landes vom Rest der Welt zu verringern und gleichzeitig die Abhängigkeit anderer von China zu erhöhen, war Europa damit beschäftigt, neue Strategien zu formulieren, Risikoanalysen durchzuführen, Taskforces einzurichten und Expertengremien zu starten, um zu prüfen, wie Europa reagieren sollte.
Diese gut gemeinten Initiativen sind zu schädlichen Ablenkungen geworden. Europa hat trotz der besten Bemühungen der EU-Spitzen in Brüssel wertvolle Zeit verschwendet. Der Block muss viel schneller und mutiger auf die wirtschaftlichen Risiken reagieren, die aus China kommen.
Wie die EU sich stärker von China abnabeln könnte
Wie ließe sich dies erreichen? Erstens könnten die Mitgliedstaaten beschließen, der Kommission mehr Befugnisse in einer Reihe sicherheitsrelevanter Politikbereiche zu übertragen – von Investitionskontrollen und -bedingungen über Exportkontrollen bis hin zur Cybersicherheit.
Zweitens könnten EU-Verfahren durch eine stärkere Nutzung von Notfallmechanismen oder vorläufigen Handelsmaßnahmen beschleunigt werden. Die Reaktionen des Blocks auf die Euro-Finanzkrise, die Pandemie und die russische Invasion in der Ukraine bieten dafür eine Blaupause.
Drittens könnten große Mitgliedstaaten, wenn ein Konsens der EU-27 nicht möglich ist, Koalitionen der Willigen bilden, politische Maßnahmen vorantreiben und andere einladen, sich anzuschließen.
Viertens könnte die EU ihr brachliegendes Antinötigungsinstrument wiederbeleben, um entschlossener gegen China vorzugehen.
All dies wird politische Führung in den europäischen Hauptstädten erfordern – von Berlin und Paris über Den Haag und Warschau bis nach Rom. Die Kosten einer Konfrontation mit China werden hoch sein. Doch die Kosten des Wartens – für Europas Wirtschaft, Sicherheit und Souveränität – könnten weit höher ausfallen.
Die Autoren:




Agatha Kratz ist Partnerin beim unabhängigen Forschungsanbieter Rhodium Group und leitet dort die Unternehmensberatung.
Noah Barkin ist Senior Advisor bei Rhodium und zuständig für die Beziehungen zwischen Europa und China sowie die transatlantische China-Politik.
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