Gastkommentar: Nächste Phase der Energiewende braucht einen Kompass
Die Energiewende ist weltweiter Megatrend: Der rasante Zubau von erneuerbaren Energien in China, Indien und vielen anderen Ländern zeigt das jeden Tag. Deutschland, das heute mehr als die Hälfte seines Stromes aus erneuerbaren Energien gewinnt, will und muss hier einer der Vorreiter bleiben. Nicht nur, um die Klimakrise zu bewältigen, sondern um technologische Führung zu sichern, neue Märkte zu erschließen und das Leben konkret zu verbessern.
Viele Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft teilen diese Einschätzung nicht nur, sie sind längst mitten in der Umsetzung. Schon heute ist die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien ein zentraler Faktor für Investitionsentscheidungen. Ein politischer Schlingerkurs würde daher zu erheblichen Mehrkosten führen.
Darum muss die nächste, entscheidende Phase der Energiewende gemeinsam, konsequent, kreativ und mit sozialem und wirtschaftlichem Kompass gestaltet werden. Nötig ist dafür eine Energiepolitik, die verlässlich ist, Bewährtes fortführt, wo notwendig optimiert und den vorhandenen Schwung nutzt und nicht ausbremst.
1. Von der Ausbau- zur Integrationsagenda
Netze, Speicher, Lastmanagement und Digitalisierung werden künftig im Mittelpunkt der Energiewende-Politik stehen. Denn ein modernes Stromsystem muss Angebot und Nachfrage in Echtzeit ausbalancieren. Das bedeutet: beschleunigter Netzausbau, der sich am notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien orientiert; Speichertechnologien vom Einfamilienhaus über das Quartier bis zur Großbatterie, smarte Steuerung für Industrie und Haushalte.
Ein modernes, digital gesteuertes Stromnetz wird zur Innovationsplattform für Industrie, Start-ups und ganze Regionen. Von KI-gestützter Netzoptimierung bis zu dezentralen Energiemärkten entstehen neue Chancen, die auch Bürgerinnen und Bürger einbeziehen.
Ohne Zweifel werden auch steuerbare Leistungen in Form verschiedener Erzeugungstechnologien und Speicher gebraucht. Der nächste wichtige Schritt ist daher ein Kapazitätsmarkt. Dabei nur auf reine Gaskraftwerke zu setzen, wäre keine nachhaltige Lösung, sondern eine klimapolitische Sackgasse.
Neue Gaskraftwerke müssen bereit für den Einsatz von Wasserstoff sein. Die Abscheidung von CO2 und dessen anschließende Speicherung (CCS) ist für Gaskraftwerke heute und in absehbarer Zukunft keine wettbewerbsfähige Technologie. Sie wird aber benötigt für schwer vermeidbare Emissionen in der Kalk- oder Zementindustrie.
2. Wasserstoff als Katalysator für Hightech-Märkte
Zurzeit stockt der Wasserstoff-Hochlauf. Das Wasserstoffbeschleunigungsgesetz sollte daher schnell verabschiedet werden. Und ja, der Markt wird Wasserstoff aus unterschiedlichen Quellen handeln und ausprobieren.
Mit öffentlichem Geld fördern sollten wir allerdings nur Wasserstoff auf Basis erneuerbarer Energien, denn nur der ist langfristig wirklich nachhaltig. Niedrigere Ziele sind auf diesem Weg übrigens keine Lösung. Denn Wasserstoff verbindet Klimaschutz mit industrieller Innovation. Elektrolyseure, Logistiklösungen und neue Anwendungen in Chemie- und Stahlbranche, der Luft- oder der Schifffahrt können zu neuen Exportschlagern werden.
3. Soziale Klimapolitik – Teilhabe für alle
Wärmepumpen, Photovoltaik und effiziente Geräte bieten große Vorteile, die bisher vor allem einkommensstärkere Schichten für sich nutzen. Umso wichtiger ist es, dass auch Haushalte mit kleinen Einkommen von diesen Vorteilen profitieren können.
Gemeinschaftliche Lösungen wie Wärmenetze oder ein moderner ÖPNV sind dafür das Fundament. Einnahmen aus Windparks können Kommunen helfen, ihren Bürgerinnen und Bürgern bessere und günstigere Leistungen anzubieten und letztlich die Akzeptanz für die Energiewende deutlich stärken.
Dazu kommt der Trend zum Selber-Strom-Machen, auch für Mieter. Es ist ermutigend zu sehen, wie viele Balkonkraftwerke es schon gibt. Diesen Mitmach-Impuls können wir nutzen.
4. Sicherheitspolitische Dimension und technologische Souveränität
Unsere bisherige Abhängigkeit von Gas, Öl und Uran geht dem Ende entgegen. Wir bestimmen selbst, wie wir Wind, Sonne, Wasser und Biomasse einsetzen – unabhängig von Importen aus geopolitisch schwierigen Regionen. Klimaneutrale Energieversorgung stärkt unsere Unabhängigkeit und Souveränität. Außerdem: Wer Energietechnologien selbst entwickelt und exportiert, gestaltet auch internationale Standards mit und eröffnet Chancen für die heimische Wirtschaft.
Die neue Phase der Energiewende bietet die Chance auf den größten Innovationsschub seit der industriellen Revolution. Gestalten wir diesen Prozess aktiv, kann sich Deutschland als Leitmarkt und Leitanbieter im 21. Jahrhundert etablieren. Das ist gut für Wirtschaft und Klima, aber es ist zugleich auch ein Programm für bessere Lebens- und Wohnqualität, mehr Teilhabe, gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine intakte Umwelt.
Autor: Der SPD-Politiker Carsten Schneider ist Bundesumweltminister.